Unter der Hand (German Edition)
gewölbten Brusttasche über dem Herzen. Bierlasterfahrer, Laufbursche – zu mehr hat er es nicht gebracht. Nach dem Sohn folgt eine Tochter, auf dem nächsten Foto planschen die Kinder in einer großen Blechwanne unter Affenbrotbäumen. Weißblonde Haarschöpfe. Lotte sagt, sie kenne die Kinder nur von Beerdigungen. Beim Begräbnis von Lottes eigenem Vater seien sie dagewesen und dann bei dem ihrer Mutter. Da waren sie schon Teenager, von ihnen als Erwachsene weiß sie nichts, nur dass das Mädchen dick geworden ist, obwohl sie doch als Kind ausgesehen habe wie eine kleine Libelle.
Dann berichtet sie von ihrer eigenen Reise nach Windhoek, vor dem Schlaganfall – sie tippt auf ihr ungehorsames rechtes Bein –, die Früchte, der Himmel, die Insekten, alles farbig, üppig, riesig, nur der Bruder, der sei klein geworden, geschrumpft unter der afrikanischen Sonne, in der Kargheit der Ehe (ich fasse ein wenig zusammen), der chronischen Geldnot.
Ich sage, der Krieg habe wohl ziemlich viele Notgemeinschaften erzeugt, jeder für den anderen nur der oder die Drittbeste, alle gebeugt von Schuld und Versehrtheit.
Da schüttelt Lotte heftig den Kopf, was wissen Sie schon, mein Bruder war ein halbes Kind, Schuld! Uns wurde alles genommen. Und spießt nachdrücklich das letzte Kuchenstück auf, mit der Miene derjenigen, die mit ihrer Unterschrift den Vollzug eines Urteils anordnet. Ich schiebe das Album neben mich auf die Couch. Es staubt ein bisschen. Eine Uhr tickt. Die gerafften Gardinen sind niederschmetternd, dahinter und darunter passen sich einige Pflanzen den Umständen an. Ich denke an die weichen Banknotenlappen in Vicos Umschlag, die würde ich mir jetzt gern gekühlt oder gewärmt in den Nacken legen, sie irgendetwas bewirken lassen. Stoffliche Veränderungen. Lotte schaut Fernsehen. Ihr Profil ist strenger als die Vorderansicht vermuten lässt, um den Mund herum ein vom Verzicht scharfer Zug. Ich beginne die Dönhoff zu loben und nenne deren Umgang mit Verlust und Geschichte vorbildhaft. Fühle mich wie beim Wort zum Sonntag. Schwitze.
Lottes Gesicht bleibt starr, gemeißelt, wie nach der vierten Ermahnung eines Schülers durch den Lehrer und kurz vor der Entscheidung für schärfere Maßnahmen. Ich atme flach. Das kann ich gut.
Wir gehen zum Abschied und zur Versöhnung einmal durch den Garten, die Hagebutten prall. Wie obszöne Bonbons sehen sie aus oder wie Puppengranaten. Die Nachbarin nähert sich neugierig dem Zaun, sagt gut gelaunt:
Guten Abend, Frau Schuchardt, die Nichte zu Besuch?
Lotte schüttelt den Kopf, offensichtlich verärgert über die Vorgabe.
Das ist Minna, sagt sie, wir kennen uns – sie zögert, und ich warte angespannt auf ihre Darstellung –, wir kennen uns von früher, beendet Lotte den Satz und kümmert sich nicht um das ratlose Gesicht ihrer Nachbarin. Von ganz früher.
Wir verlassen den Garten auf schnellstem Weg, Lotte hinkt voran. Ich verstehe nicht, warum sie so aufgebracht ist. In der Küche bleibt sie stehen, hält sich am Herd fest, schnauft laut. Was geht die das an!, ruft sie aus. Was geht die das an, wer Sie sind!
Und sie erzählt voller Verachtung, dass die Nachbarin – übrigens diejenige, die bestohlen wurde, während sie sich Rudi Carrell im Fernsehen anschaute – spionieren würde, sie, Lotte, ausspionieren, weil ihr alles Nicht-Bayrische suspekt sei, und vor allen Dingen, weil sie Lotte wegen ihrer guten Figur hasste.
Ich bin sprachlos. Ja, Lotte ist schlank und die Nachbarin füllig, mit bemerkenswertem Brustumfang, leicht kurzatmig vom Transport ihres eigenen Gewichts – aber ist das, mit achtzig, ein Grund zur Befeindung? Die Kupferpfanne mit den runden Vertiefungen an Lottes Küchenwand verwandelt sich unter meinem Blick und den neuen Gegebenheiten zu einem Schild, das sie zum Nahkampf verwendet oder zum kriegerischen Trommelwirbel (mit Hilfe des bombastischen Holzlöffels gleich daneben), der den Busen der Nachbarin in beängstigende Schwingungen versetzt. Kurz: Vor meinen Augen entwickelt sich ein Lotte-Comic. Wie ein Bernhardiner sieht sie aus, die schweren, hängenden Wangen entflammt von der Sache, die Nachbarin auf der Flucht, Risse tun sich auf in der Erde unter ihren schweren Schritten, der viel zu enge Rock lässt sie x-beinig laufen, der fliederfarbene Pullover ist schweißgetränkt, das Gesicht, im selben Farbton, angstverzerrt.
Die gute Figur. Das Wichtigste. Lotte hat ihrem Mann eine gute Figur gemacht, ins Bett gelegt und sie bis ans Grab,
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