Unter der Hand (German Edition)
geordnet nach Kommunisten, Faschisten, religiöse Eiferern, Militärs und Kleptokraten.
Was beim Autoquartett die PS-Zahl, ist im Tyrannen-Quartett die Zahl der Todesopfer oder die Länge der Herrschaftsdauer. Wir knallen die Karten auf den Tisch, rufen dreißigtausend!, Zweiundzwanzig Jahre! in den Raum mit den Zwergenmöbeln und der Puppenfürsorge und biegen uns vor Lachen. Wir sind wie erschöpft, als Parwiz schließlich die Blitztrumpfkarte mit Hitlers Porträt zieht, er wirft sie theatralisch auf den Boden:
Endsieg!
Parwiz!, rufe ich nun aus, dann sitzen wir mit hängenden Armen, außer Atem wie nach einem Spurt. Tut gut, oder?, fragt er, mal etwas Inkorrektes. Ich nicke schwach.
So treffen uns Heinrich und Anja an, wir wirken wahrscheinlich wie zwei Verschwörer. Mit einer einzigen, eleganten Taschenspielerbewegung lässt Parwiz den Kartenstoß in seinem Ärmel verschwinden, Heinrich winkt mir zu und lächelt.
Komm, sage ich zu Parwiz, der sich anschickt, seine Bücher aus der Tasche zu holen und das Quartett darin zu verstauen, komm, heute machen wir etwas anderes. Komm mit. Ich springe auf.
Wir müssen los. Das sage ich ohne Adressaten, aber in Heinrichs Richtung.
Schon wieder?, antwortet er, und ich fürchte, dass er eine geistreiche Bemerkung anschließen wird, aber er fügt nur an: Dann vielleicht Ende der Woche.
Anja hebt den Kopf und nimmt Parwiz’ Anwesenheit mit einer kaum sichtbaren Bewegung zur Kenntnis.
Wir rennen zwei weitere Schüler fast um, als wir die Tür aufstoßen.
Du hast es sehr eilig, stellt Parwiz fest. Das hängt entweder mit unserem Ziel zusammen oder mit unserem Start.
Ich erwidere nichts.
In der U-Bahn erzähle ich ihm endlich von Lotte, gerate in eine mich verwundernde Redseligkeit. Sie ist ein wohltuendes Gegengewicht zur Sprachlosigkeit, die mich beim Anblick Heinrichs befallen hat wie eine Atemnot.
Wir durchqueren die große Lobby des Klinikums, Parwiz drückt sich fast an mich, es riecht schlecht, sagt er, nach nichts, was ich wissen will.
Lotte sitzt aufrecht im Bett, als wir, immer noch stürmisch, eintreten, ihr Haar verwirrt, der Blick auch.
Ja?, sagt sie fragend, als wir ans Bett treten.
Ich bin’s, Minna. Ich nehme ihre Hand, sie ist kühl und glatt.
Natürlich sind Sie Minna.
Beim Sprechen sieht man die Lähmung rechtsseitig stärker, das Gesicht hat seine Strenge verloren und sieht traurig aus.
Das ist Parwiz, sage ich und schiebe ihn näher an ihr Bett, mein Nachhilfeschüler.
Parwiz schüttelt ihre Hand, bleibt erst stehen und setzt sich dann auf den Bettrand.
Meine Oma liegt auch im Krankenhaus.
Lotte ist nicht meine Oma, sie ist eine Freundin.
Meine Oma ist auch eine Freundin.
Parwiz knackt mit den Fingerknöcheln und hört sofort auf, als Lotte ihre Hand über seine legt:
Jeckerl noch mal
.
Dann gibt sie ihm einen kleinen stachligen Ball, mit dem sie Taubheitsgefühle in den Fingern bekämpfen soll oder Muskeln trainieren, Parwiz presst ihn, bis ihm die Adern an den Schläfen hervortreten.
Bist du Italiener, bringt Minna dir Deutsch bei?
Nein, sagt Parwiz, Halb-Iraner, Minna verbessert mich nur. Ich bin hier geboren und schlecht in der Schule.
So schwarze Haare, sagt Lotte und so gutes Deutsch, dann zählt sie alle Mahlzeiten auf, die sie seit meinem letzten Besuch eingenommen hat, an alles hängt sie ein -chen (feine Rosenköhlchen, ein bisselchen Grateng). Ich weiß nicht recht, warum sie das tut, das öde Krankenhausessen hat zweifellos so viel Nacherzählung nicht verdient, aber Parwiz findet es offensichtlich witzig, hakt nach – mit oder ohne Sahne? – wie ein Quizmaster, nur dass er dabei mit den Zähnen seine Fingerkuppen malträtiert, am Ende bekennt er, Pudding zu lieben, den mit Haut.
Wann dürfen Sie nach Hause? Frage ich sie mit unverhohlener Ungeduld.
Lotte nimmt die Unterbrechung ihres Gesprächs mit Parwiz gelassen, sagt, ihm zugewandt, meine Mutter hat immer Birnenkompott mit Nelken angesetzt, kennst du das?, und zuckt dann, mir zugewandt, mit den Schultern.
Ich komme morgen in die Reha, können Sie mich kämmen und mir noch einmal die Füße waschen?
Parwiz springt auf: Ich kämme!
Lotte hebt ihr Gesicht zu ihm wie zu einem kleinen Erlöser und sagt: Aber schön! Und ohne Kaugummi.
Parwiz spuckt es aus und legt es in die Nierenschale aus Pappe auf Lottes Nachtisch. Dort krümmt es sich wie ein urgeschichtlicher, versteinerter Wurm. Dann beginnt er mit dem Stiel des Kamms die flach am Hinterkopf liegenden Haare
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