Unter der Hand (German Edition)
die aus dem tief unter mir liegenden Hof wie aus einem Amphitheater heraufschallen, trösten: Geschirrklappern aus den Küchen, die Stimme eines Radiosprechers, Türenschlagen, ein Staubsauger. Lebenszeichen. Wenn ich mich lebensgefährlich weit über die Brüstung beuge, kann ich Oskars Küchenfenster sehen: Oskar, der bereits erwähnte Wohnungsnachbar, dessen Gaszähler bei mir hängt. Drei, vier Treffen im Jahr. Eine gemeinsame Nacht, in der ich seine Prinz-Eisenherz-Frisur einigermaßen gezaust habe. Seitdem liebenswürdiges Grüßen im Treppenhaus. Ich war ihm zu unübersichtlich. Wie alle Naturwissenschaftler, die ich kenne, hat er Angst vor Kontrollverlust.
Ich betaste die Erde der Topfpflanzen, die im Unterschied zu den von mir professionell betreuten ein wenig trübselig aussehen. Ich gieße sie, fege den Boden, rupfe dann trockene Blüten und Blätter ab. Die Reihenfolge ist unsinnig; ich weiß. Aber ich habe die Welt im Griff und die Miete bezahlt. Die Rechnungen allerdings noch nicht alle, ich sortiere die Post nach erfreulich und unerfreulich. Post, die ich, weil ich den Briefkastenschlüssel verloren habe, mit der Häkelnadel aus dem Briefkasten geangelt habe – unter den wachsamen Augen unseres Haus-Sheriffs, einem Mann in den Fünfzigern, Frührentner, geborener Schnüffler. Beide Stapel sind sehr klein, der erfreuliche besteht genau genommen aus einer Postkarte. Einer Postkarte von Claudia!
Sei tapfer und eigensinnig
steht auf der Vorderseite, die ein sepiafarbenes Foto dreier mächtiger Damen mit ausladenden Hüten und ausladendem Busen ziert. Alle drei haben ihre Regenschirme in Habt-Acht-Stellung gebracht und schauen ohne Zweifel kriegerisch.
Auf der Rückseite schreibt Claudia:
Glückwünsche! Wieder ein Jahr rum. Auf ein Neues – grüezi, Claudia (Cappuccino-Gruppe)
.
Rätselhaft: Weder habe ich Geburtstag, denn der liegt im Herbst, noch ist Jahresende. Nach welchem Kalender leben die Berner? Überhaupt, warum meint sie meinen Geburtstag zu kennen?
Your efforts will pay
. Die Rechnungen, zwei, lasse ich ungeöffnet liegen, stecke einen Schein aus Vicos Umschlag in mein Portemonnaie und mache mich auf den Weg zum Metzger. Auf der Straße ein Mann, der von hinten Heinrich ähnelt. Herzflattern, Ohrendruck, großer Wirbel. Ach, Minna, muss das sein? Das Frühchen als Spätzünder. Angestoßen und aufgerufen in einem gänzlich unbedachten, zugefallenen Moment, der wiederum auf einen Montag fiel, an dem es nieselte, zwanzig Grad warm wurde und das Leben, gegen Mittag, in einer Eisdiele, einen Tag weiter rückte. Und dann noch ungezählte voran, mit der unverzüglich ausbrechenden verzückten Hell- und Weitsicht der Verliebten.
Über die Metzgerschwelle stolpere ich mehr, als dass ich sie überschreite, so sehr hatte ich mich innerlich umgewidmet. Ich reiße mich zusammen und besinne mich auf den Zweck meines Aufbruchs: Kaufe ein halbes Kilo feinstes Rinderhack, Franz hat sich das verdient, in Regen, im Leben, außerdem erstehe ich im Supermarkt nebenan eine Packung Servietten mit dem Design der amerikanischen Flagge und zwei Dosen Budweiser Bier in der Dose. Die Analogie zur Pauschalreise: alles drin, Transfer zum Bett,
round trip
. Frühstück. Küsse. Lügen. Ich bin zurück im Betriebsmodus.
Vor dem Eingang des Supermarkts lungert der Bettler, dem ich noch nie etwas gegeben habe und dessen Anwesenheit mich jedes Mal reizt. Ich, Bepackte und zum unwahrscheinlichen Überleben wild Entschlossene, erlaube mir, zornig zu sein über den Hundeblick, die Fallstricke der ausgestreckten Beine, die Zeitung, die allmorgendlich dem stummen Zeitungsständer entnommen wird, ohne zu bezahlen, und die nach der Lektüre als Sitzunterlage dient. Ich gebe nur den Musikanten etwas, das Leistungsprinzip. Ich bin ein selbstgerechtes Scheusal, das nun bei Rot über die Ampel geht, von einem Polizisten in Zivil angehalten wird und eine Geldstrafe in Höhe von zwanzig Euro entrichten muss.
Der Bettler grinst. Das sehe ich, obwohl ich ihm den Rücken zukehre. Und Vico grinst auch, die Nonnen grinsen und das Shetland-Pony, Star auf dem Oktober-Kalenderblatt des Jahres 1972, grinst unter seinen lustigen schwarzen Fransen nicht minder. An einem sonnigen Herbsttag jenes finsteren Jahres habe ich nämlich vom bunten Teller des Vaters genascht, der mit Valium in allen Stärken gut befüllt war, auch wenn Weihnachten noch in weiter Ferne lag. Stille Nacht; sie kam.
In der Küche schalte ich das Radio ein, räume die
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