Unter der Hand (German Edition)
aufzurichten und zu toupieren, mit großer Zartheit. Strähne um Strähne. Lotte beginnt lautlos zu weinen, die Tränen fließen in den tiefen Rinnen der Falten und sammeln sich im Ausschnitt. Am Himmel, zu dem ich meinen Blick aus Not wende, herrscht stürmische Bewegung: Flugstunde bei den Wolken, sie spurten vorbei, angetrieben von einem Wind, den wir in den Fugen heulen hören.
Ich hole die Waschschüssel und hantiere laut mit den Gerätschaften, stelle den Wasserstrahl auf stark, klappere mit dem Zahnputzbecher, den Tiegeln und Tuben.
Lotte rutscht auf den Bettrand, die Füße reichen kaum bis zum Boden, den Kopf hält sie schräg, damit Parwiz, der mittlerweile die Bürste einsetzt, sie noch erreicht. Er hat den konzentrierten Gesichtsausdruck, den ich vom Aufgabenlösen an ihm kenne. Im seitlich einbrechenden Licht sieht Lottes Gesicht nun aus wie ein erdgeschichtliches Relief. Ich beginne mit dem Einseifen der Füße, kein Blickkontakt mehr.
Sie fragt Parwiz zum dritten Mal nach seinem Namen, er wiederholt ihn ohne Anzeichen von Ungeduld. Und Lotte wiederholt vorsichtig, als müsse sie sich einem gefährlich neuen Wort mit Bedacht nähern und macht
Paarwitz
daraus.
Die lustigen Schaltkreise des Gehirns. Ich schaue auf, den blauen Mäandern der stark hervortretenden Krampfadern folgend, eine Strecke Rosa das Nachthemd hinauf, dann bin ich oben: Lotte ist beim Kämmen eingenickt, Parwiz steht, die Bürste in der Hand, und stützt den Kopf. Wir betten sie gemeinsam auf die Kissen zurück, Parwiz sagt befriedigt:
Jetzt sieht sie gut aus, so als wäre ihm ein Kuchen gelungen. Dann steckt er das Kaugummi zurück in den Mund.
Minna?
Wir stehen vor Lottes Zimmertür, das Linoleum unter unseren Füßen ist stumpf. Den Korridor entlang schlurfen Gestalten mit Infusionsbehältern auf Rädern, an langen Stangen schwanken die Flaschen, am Körper schaukeln Beutel, die aus allen Wundöffnungen die Sekrete und Flüssigkeiten auffangen. Deren Inhalt schwappt sacht hin und her, wie Brackwasser in einer Hafenmole. Schweres Frottee bei den Männern, Kimono-Schick bei den Frauen, groß geblümt, Saunaschlappen mit Noppenfußbett. All diese unbarmherzigen Designs aus dem Gesundheits- und Wohlfühlsektor, die uns mit Farben aus der frühesten Kindheit überversorgen und in geschlechtslose Körperinhaber verwandeln.
Parwiz?
Er kaut heftig auf dem erkalteten und erstarrten Kaugummi, zusätzlich noch an den Bändeln seiner Kapuzenjacke, die schon ganz abgebissen aussehen.
Wird sie bald sterben?
Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie hat sich erholt.
Braucht man clevere Argumente zum Leben?, fragt Parwiz weiter, noch immer haben wir uns nicht vom Fleck gerührt.
Frau Schuchardt
steht auf dem Türschild.
3.20
. Man kann die Namen sehr leicht entfernen und ersetzen, die kleine Rahmenvorrichtung ist gehörig ausgeleiert.
Oder reichen die normalen?
Clevere? Die normalen reichen, sage ich, und wir setzen uns in Bewegung.
Meine iranische Oma ist an Herzeleid gestorben, sagt Parwiz im Aufzug.
Herzeleid?
Ja, sagt mein Vater. Wie im Lied von Rammstein,
bewahret einander vor Herzeleid für die kurze Zeit, die ihr beisammen seid
. Die Zeit, die mein Vater da war, also bei sich zu Hause, war zu kurz. Da ist sie gestorben.
Ich bin hilflos, wünsche mir Franz und Heinrich als Ratgeber. Soll ich nachfragen, was genau die Familie erlitten hat? Soll ich Rammstein unkommentiert lassen? Welcher Kommentar würde mir dazu überhaupt einfallen? Soll ich Parwiz sagen, dass Herzeleid ein altes Wort aus Märchen ist, aus mittelalterlichen Liebesgeschichten, das man vor Verunstaltung bewahren sollte? Keine Ahnung. Die Hilflosigkeit mündet in eine tapsige Umarmung noch im Aufzug, Parwiz drückt auf die Türöffnertaste und schüttelt sich, als müsse er seine Knochen wieder sortieren.
Schon gut, sagt er, ist lange her. Der Schah ist auch längst tot.
Wir verabschieden uns, dann rufe ich ihm doch noch nach: Und wie geht es deiner anderen Oma?
Wieder besser, ruft Parwiz und hebt den Daumen, sie ist made in Germany!
Zwölf
Von Franz ist eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, er wünscht mir einen schönen Nachmittag und Hamburger zum Abendessen, zu dem er sich – hiermit – ansagt. Ich trete auf den Balkon meiner Wohnung und lasse den Blick über die vom Regen noch glänzenden Dächer schweifen, auf einzelnen Kaminen sitzen Amseln und schmettern ihre Hymnen. Immer noch die schönste Form der Selbstbehauptung. Die unwichtigen Geräusche,
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