Unter der Hand (German Edition)
Jahrzehnte später noch Folgen hat? Am Herzen kann es schließlich nicht gelegen haben. Dann frage ich endlich, ob alle Gäste Physiotherapeuten sein werden. Franz lacht, ich dachte schon, du hast aufgelegt, keine Sorge, außerdem ist es Nina erst im Zweitberuf, du wirst dich wohlfühlen, lauter heikle Existenzen.
Ich liebe deinen Humor, Franz, sage ich, aber jetzt muss ich aufhören, eine weitere heikle Existenz wartet auf mich.
Die Stunde mit Parwiz vergeht, ich höre ihm zu, Geschichte, napoleonische Befreiungskriege, Feldzug in Ägypten, der Zimmerspringbrunnen zwitschert dazu, ich fühle mich alt und jung zugleich, die alte Minna ist skeptisch und besorgt, grämt sich angesichts ihrer Schwunglosigkeit und ihres stumpfen Haars, der jungen Minna dröhnt ihr eigener Herzschlag in den Ohren. Mit dem einzigen Refrain: Heinrich.
Parwiz sagt (und ich höre es aus weiter Ferne): Napoleon hat sich schon als Kind für Ägypten begeistert, wusstest du das? Deshalb wollte er es erobern; ist das nicht komisch, einen Krieg führen, um einen Traum zu verwirklichen?
Ja, sage ich und nicke, das ist komisch. Aber verständlich.
Fünfzehn
Wenn Heinrich sich konzentriert, nimmt er die Brille ab. Das weiß ich jetzt. Und ich weiß auch, dass er links am Hals mehrere kleine Muttermale hat und, im Vergleich zu mir, die sich ständig schneidet, einklemmt und verbrennt, kaum Spuren von Missgeschicken an den Händen. An diesem Abend hat er mich nach den Geschichten der Narben gefragt und hinzugefügt, dass eine solche Bitte wenig originell sei, Originalität ihm aber gänzlich gleichgültig sei. Die Gründe für all die Schnittwunden jedoch nicht. Ich berichtete: von der Brotschneidemaschine, dem Fleischmesser, der Autotür.
Wer will schon alles im Griff haben.
Sagte Heinrich und nahm die Brille ab.
Wir saßen, blickgekreuzt, einen langen Moment, ohne zu sprechen. Es war ganz leicht. Auch die Wärme war leicht wie ein Hummelpelz.
Wen siehst du denn?, fragte ich schließlich.
Jemand mit Stirnfalten, sagte Heinrich, vom vielen Nachdenken. Oder von einer nicht behandelten Kurzsichtigkeit. Und mit einem so schmalen Gesicht, dass man zufüttern möchte.
Nur zu.
Zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich den Wunsch, jemanden
einzuatmen
, bis die Vermischung unwiderruflich wäre. Das also ist Inspiration.
Und du, wen siehst du?
Die Ruhe selbst. Mit Bart. Nichts Glattes. Und Augen tief wie ein Brunnen (in den das Kind schon längst gefallen ist – das blieb ungesagt).
Naja, sagte Heinrich, fahnden könnte man mit solchen Beschreibungen nicht nach uns.
Macht nichts, wir sind ja schon erwischt.
Jetzt, einen Tag später, weiß ich nicht mehr, woher ich den Schwung zum
Wir
nahm, zu einer solch kühnen Behauptung, die nicht einmal ein Kuss stützte (mal unterstellt, dass der Kuss die erste Rate aufs Ganze ist), jetzt, einen Tag später, weiß ich nicht mehr, welch hurtiger Wind mir unter die lahmen Flügel fuhr und mich lufttrunken anhob – oder eben doch: Inspiration. Die Aufnahme der ganzen Person Heinrich durch die Atemwege, zu denen ich, anders als die Spezialisten, auch die Haut zähle.
Heinrich hatte nach meiner Antwort meine Hand genommen, sie gedrückt wie bei einem Vertragsabschluss und mir, ohne den Blick je abzuwenden, die Speisekarte zugeschoben:
Lass uns essen. Ich will mit dir essen.
Und ich will mit dir schlafen.
Das blieb ungesagt, der Satz stockte auf der Zunge wie einst bei der armen Mut, Potiphars Frau, die den jungen Joseph so sehr begehrte, dass sie vom inneren Widerstreit drall und mager zugleich wurde.
Ich packe während dieser kleinen Rückschau auf den gestrigen Abend meinen Rucksack, den ich zunächst von Staub befreien musste, weil es seit Jahren keine Ausflüge mehr gab, auf denen er ein sinnvoller Begleiter gewesen wäre. Im einfallenden Sonnenlicht wirbelt der Staub und macht die Luft sichtbar. Der Ausflug wird mich und Heinrich zum Gut Ammerland, das ich eigentlich mit Franz hätte besuchen sollen, führen; am Ende des langen Abends habe ich ihm nämlich von meiner Existenz als Pferdewirtin berichtet, die einerseits eine glatte Lüge ist. Andererseits – und es war Heinrich, der dies zu bedenken gab – ist sie, die Lüge, die Ausgestaltung einer Möglichkeit, die sich zum richtigen Zeitpunkt nicht ergeben hat, eine Erfindung ist keineswegs etwas Schändliches. Hat Lotte sich nicht gefreut, eine Pferdewirtin kennengelernt zu haben? Ja! Möglichkeiten bleiben hartnäckig, auch unter
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