Unter der Hand (German Edition)
legt sich hin, ich helfe mit den Kissen und den Beinen, die ich anheben und verstauen muss wie eine Ladung Holzscheite.
Wissen Sie, Minna, wenn man sich für alle interessierte, die man so trifft, dann hätte man schnell das Gefühl, dass die ganze Welt im Sterben liegt. In unserem Alter. Besser, man fängt erst gar nicht damit an.
Das sagt Lotte mit klarer, fester Stimme. Sie hat meine Gedanken erraten. Selbst ihre Augen scheinen in diesem Moment wieder von einer deutlicheren Färbung zu sein, von dem intensiven Grün, auf das sie so stolz ist.
Ich drücke ihre Hand, sage um ein Haar:
Auf Wiedersehen und übrigens, ich habe mich verliebt
. In einer plötzlichen Aufwallung von Muttergier oder besser gesagt Tochtergier hätte ich das gesagt haben können. Ein Geständnis, nach dem sie ihre warme Handfläche auf meinen Scheitel legen würde als schöne Bestätigung, es recht gemacht zu haben.
Aber weder hat Lotte solche mütterlichen Anwandlungen noch sage ich etwas; ich verlasse den Raum auf quietschenden Sohlen und wende mich an der Tür noch einmal um. Lotte schaut aus dem Fenster.
Draußen empfängt mich ein böiger Wind, er stöbert durch die hässlichen Bodendecker, die an den Flanken des Klinikums anstelle von Blumenrabatten gepflanzt wurden, und wirbelt den Müll, der sich in ihnen verfangen hat, zusammen mit Laub vom Vorjahr auf. Alles torkelt ein wenig in der blank polierten Luft und sinkt dann herab,
Rauchen kann tödlich sein
; vielleicht ist ja der Eigentümer dieser Schachtel, die nun vor meinen Füßen zwischen braunen Buchenblättern zur Ruhe kommt, längst wirklich tot, meine ich. Und überhaupt: Leben ist lebensgefährlich, oder, Vico? Damit wirst du doch sicherlich in der Abfallbranche jeden Tag und nachdrücklich konfrontiert. Könnte aber, im Gegenteil, eher sein, dass du aus dem Umgang mit der grundsätzlichen Wiederverwertbarkeit aller Hinterlassenschaften einen Ewigkeitsbegriff entwickelt hast, zum Humus taugt schließlich beinah alles. Wir bewähren uns in den tieferen Schichten, selbst wenn wir als Erdenwandler auch nicht viel mehr als eine Art Bodendecker sind. Vielleicht treffen in dem Punkt Religion, Biologie und Ökologie innig zusammen.
Vor der LernForm klingelt mein Handy, Franz hat mir die Melodie ausgesucht und gespeichert,
Azzuro
von Celentano, als Erinnerung an das italienische Paradies,
Herztöne
hatte er mit einem Grinsen gesagt, und tatsächlich klopft es jetzt beträchtlich. Aber nicht Heinrich ruft an, sondern Vico, der mir seinen Besuch ankündigt, nicht München diesmal, sondern Berlin, Gespräche auf politischer Ebene, sagt er,
Agroturismo
sei das Neueste in Italien, da könne man sich von den Deutschen Grünen einiges abschauen. Er möchte mich dort treffen. Zeig mir die Hauptstadt!,
la capitale
, ich weiche aus, mal sehen, vielleicht, kommt darauf an – wir hören uns. Noch im Auflegen höre ich Vico, vermutlich zu seiner Sekretärin, sagen: Buch mir den wilden Osten.
Ich winke Parwiz durch die Scheibe zu, halte das Handy hoch, das zum zweiten Mal klingelt. So schlecht kann es um mich nicht bestellt sein, wenn in derart kurzer Abfolge zweimal jemand mich zu sprechen wünscht. Ich denke an die Zugfahrten, bei denen ich nicht bestimmen kann, ob mich das ständige Geklingel und lautstarke Telefonieren wirklich stört oder ob mein Unwille nur Ausdruck von Neidabwehr ist; Neid derjenigen, die mit eingeschaltetem Telefon stundenlang fährt, ohne dass der Brummton auch nur einer einzigen sms erklingt und den Mitreisenden signalisiert, dass es sich bei der Sitznachbarin um ein nachgefragtes Wesen handelt.
Diesmal ist es Franz, ich freue mich, seine Stimme zu hören. Er macht allerdings so viele Vorschläge, dass ich verwirrt schweige. Der letzte betrifft eine Einladung zu ihm nach Hause, selten war ich dort, fast immer kommt Franz zu mir. Ich bin gern die Fürsorgende, Vorausschauende, Gewährende. Ich schreibe gern das Begegnungs-Drehbuch.
Wie kommt’s?, frage ich ihn.
Ich hatte es schon lange vor, sagt Franz. Und ich möchte ein paar Freunde dazu einladen.
Nina auch?
Sie auch.
Ich schweige, Franz und ich haben uns noch nie mit Freunden getroffen, habe ich überhaupt Freunde außer ihm? Ja, Undine, aber die wohnt noch immer am Rhein, zwei, drei aus dem Studium (abgebrochen), Robert, Alyson (zwei Telefonate im Jahr), ich fröstle innerlich angesichts dieser schütteren Bilanz. Welches für Freundschaften zuständige Organ war bei der Frühgeburt so unreif, dass es
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