Unter der Hand (German Edition)
Luftabschluss, verborgen in den unteren Schichten des Wunschkörpers, der vom Sichtbaren und Öffentlichen umfangen wird. Wünsche sind ungeheuer widerstandsfähig, sie überleben die größten Dürren, sie sind sich, wie alle Winterschläfer, über lange Zeiträume selbst Vorrat genug, sagte Heinrich. Und auf einmal melden sie sich, zum Beispiel, als Pferdewirtin zu Wort. Und kommen zum Vorschein.
Ich spüre meine Verliebtheit an den fahrigen Händen und am flauen Magen; es gibt aber auch ein zweites Gefühl: Das Wandertag-Lampenfieber. Wandertage waren die einzigen Lichtblicke der Schulzeit. Selbstverständlich brach man immer in bekannte Gegenden auf, Hunsrück, Eifel, Idar-Oberstein, Marksburg, kein Ziel überraschte, aber unter der wochen- statt sonntäglichen Begehung, durch den mitgeschleppten Proviant und das Naschzeug, die Kleidung, die endlich aus den Pflichten der modischen Korrektheit (die ich nie erfüllen konnte) entlassen war, wurde noch aus der gewöhnlichsten Kleinstadt, der durchschnittlichsten Blumenwiese und der bescheidensten Anhöhe etwas Erregendes. Ich fiel weder auf noch aus; die Schülerherde zog friedlich, gelegentlich singend, durch den Wald, in dem die Schritte auf weich gepolsterten Wegen gedämpft wurden bis zur Lautlosigkeit. In das Bett, das der Mischwald aus Moos, Blättern vom Vorjahr und seidigen Lärchennadeln bereitete, hätte ich mich gern gelegt. Zur Decke die Luft.
Da ich die Nacht vor dem Aufbruch nicht schlafen konnte, war ich am Abend des Wandertages zerschlagen; erfüllt von einer ausnahmsweisen köstlichen Müdigkeit, als wäre mein Inneres aus Götterspeise. Nichts als schwere Glieder, leichter Kopf. Übergang zu schwirrender Gedankenlosigkeit, die klebrige Verhaftung an die sattsam bekannten Abläufe wurde, vorübergehend, von einer gebilligten Verbündung mit ihnen abgelöst. Nachts, kurz vor dem Schlaf, eine Ahnung von Freiheit, die selbstverständlich riecht und schmeckt wie das Moos und die seidigen Lärchennadeln.
Unsinn, Einspruch, Euer Gnaden Erinnerung: Als Neunjährige der erste von zwei Ausreißversuchen, eine Babydecke im Schulranzen, Karotten, zwei Schulbrote. Durch Kuhfladen waten, Angst vor den elektrisch geladenen Zäunen, allein den Fluss linkerhand zum gleichgültigen Begleiter. Schließlich, nach mehreren Stunden des Umherirrens, erschöpftes Einschlafen. Da war die Luft keine Decke, das Moos kein Lager, weder Lärchen noch Lerchen zur Stelle. Nur Angst. Das Kind ist eine gottverlassene Gegend.
Jetzt dagegen! Ich genieße jeden Handgriff, jeder Handgriff sitzt und ist sinnvoll, wirklichkeitsdicht, ich packe für Heinrich und mich belegte Brötchen, Obst, Wasser, Vollnussschokolade und Rotwein in den Rucksack, die Gegenstände liegen gut in der Hand, kleine Bojen, die anzeigen: Hier wird dir nichts zustoßen.
Ein Hupen, dann ein Klingeln: Heinrich.
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, mit dem Aplomb einer Zusage oder einer Drohung, zwei Stufen auf einmal, das Geländer schlängelt sich heiß unter meiner Hand, der Olivenbaum auf dem Treppenabsatz im vierten Stock winkt oder wankt oder warnt oder wanke ich? dritter Stock die Jahre sputen zurück eine frühere Tür schlägt zu ich bin vierzehn und mir ist einer hinterher der heißt Georg und wartet am Eingang des Konservatoriums wo ich in der Klavierstunde Beethovens Bagatellen verschwitze zweiter Stock wir fahren zu mir unters Dach juchhe nur mal kurz ausziehen fang oben an sagt Georg und sieht irgendwie schimmelig aus erster Stock untenrum auch sei froh dass ich dein erster bin Hochparterre hinterher gehen wir Kuchen essen es gibt wieder Sahne! mein Rücken sieht alles auch Unterhosen haben einen Eingriff Mädchen was für einen Hintern tust du mir an das Zimmer verschworen die Tapeten grinsen der Teppich buckelt die Lampe nickt: Vier gegen eins.
Erdgeschoss! Endlich habe ich herrliche Eile hinter dieser Tür kein Rückfall sondern Heinrich – noch vier Stufen und zwei Sätze –
Anstatt mich in Heinrichs offene Arme zu werfen, pralle ich auf drei Augenpaare, ich klammere mich im letzten Moment im Türrahmen fest und halte auf der Schwelle inne, schwer atmend.
Was ist mit dir los?, fragt Parwiz. Ist jemand hinter dir her? Du siehst so gehetzt aus.
Anja schweigt, aber zum ersten Mal sehe ich eine Art Lächeln in ihrem kalkweißen Gesicht.
Heinrich sagt: Ich hoffe, dir ist das recht. Ein Ausflug ins Grüne, zu viert.
Er hebt die Schultern, lässt sie wieder sinken und schaut mich an.
Ich
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