Unter der Hand (German Edition)
in die Farben der Luft.
Und dann redet Lotte, redet und redet. Als hätte das Kreiseziehen im Park im Inneren eine Erzählung in Gang gesetzt, wie vor einigen Wochen der Gürtel in ihren Händen. Ich höre erneut vom Bruder aus Windhoek, der in Uniform ausgesehen habe wie ein verkleidetes Kind, vom Lehrerhaushalt in Quilitten, Punkt zwölf wurde gegessen, wer da nicht bei Tisch saß, bekam nichts mehr, vom Waschtag in Quilitten, an dessen Ende die Hände und Arme wehtaten, das mühsame Aufhängen der Gardinen, die sich wieder weiß in den Raum hinein bauschten, wenn ein Wind vom Haff durch die offenen Fenster fuhr, ja, und mehr von Rolf, dem Bernhardiner, der kilometerlang die Schulkinder auf Rädern begleitete, bevor er umdrehte und sich nach Hause trollte, um die Kleineren zu beaufsichtigen, vom Führer, der allen egal war, Hauptsache es blieb, wie es war. Damals, sagt Lotte, damals war eine Veränderung so unvorstellbar wie eine neue Himmelsfarbe.
Zum ersten Mal erzählt sie auch von der Internierung in Dänemark.
Tyske pige jeg elsker dig
, sagt sie, bleibt stehen und mustert mich prüfend: Wissen Sie, was das bedeutet?
Nein, antworte ich, um ihr die Freude nicht zu verderben.
Sie übersetzt es mir: Deutsches Mädel, ich liebe dich. Das habe ich damals ständig zu hören bekommen.
Was machen die Pferde?, fragt sie unvermittelt, als wir uns dem Eingang nähern; Lotte möchte zum frühen Abendessen zurück sein (wir haben auch über den Speiseplan der Woche ausführlich gesprochen), es gibt Reiberdatschi, Kartoffelpuffer, ein müder Abklatsch von denen
ganz zuhause
, aber immerhin eine Wiederaufnahme.
Ach, sage ich, es gibt einen schwierigen Fall, ein Hengst, der Schlimmes erlebt haben muss, ich muss ihn einreiten, und wir sind dabei, Freundschaft zu schließen.
Braun?, fragt Lotte.
Dunkelbraun. Schwarzbraun.
Wie heißt er?
Ich fühle mich ertappt, wie heißt ein Pferd, das es nicht gibt;
Assente
, abwesend,
Assente
, sage ich also und schaue zum Himmel, um den Unterschied zwischen möglich und wirklich gewissermaßen amtlich zu machen.
Das klingt schön.
Wir stehen auf der Schwelle zu Lottes Zimmer, Lotte keucht fast, ich begleite sie noch zum Tisch, wo sie im Sitzen in sich zusammenfällt, als hätte allein das Reden sie aufrecht gehalten. Die Bettnachbarin von Lotte erhebt sich unter Stöhnen, als die Tür aufgerissen wird und eine Krankenschwester mit zwei Tabletts und einem
Schönen Abend, die Damen
krachend eintritt. Ich helfe Lottes Zimmergenossin, deren Namen ich nicht kenne, in die Pantoffeln, die Zehen sind verkrümmt, der Schuh zu eng, ein mühsames Unterfangen, das sie mit weiterem Stöhnen begleitet. Schließlich sitzen beide am Tisch, türkis und rosa, im gelb-grauen Licht des Raums, seitlich davon die zwei kahlen Betten auf Gummirädern: leere Ladeflächen nach dem Deponieren der Fracht, Transportfahrzeuge für Abgelegte und für Abgelebte. Keine Hüter der Nachtruhe.
Lotte schlingt die Kartoffelpuffer in sich hinein, ich berühre sie leicht an der Schulter, nicke der anderen Frau aufmunternd zu und setze mich auf den dritten Stuhl, obwohl ich das Gefühl habe, dass enorme Fliehkräfte mich nach draußen ziehen oder drücken – hätte ich in Physik doch besser aufgepasst. Über dem Tisch hängt ein kleines Kruzifix mit dem ausgemergelten Christuskörper, der Kopf geneigt, sein Blick fällt schräg auf die beiden kauenden, weißhaarigen Frauen, deren braungesprenkelte Hände unruhig die Tischkante entlang tasten, als müssten sie über die Maße des Tischs ihre Anwesenheit im Raum ausrichten. Ich versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber Lotte geht nicht darauf ein. Auch miteinander sprechen sie nicht. Das gegenseitige Desinteresse der beiden ist sehr spürbar; jede ist in sich vertieft oder verloren, unerreichbar, wie ein Säugling mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt, also ganz und gar, es ist das Wichtigste. Sie schlecken die Schüsselchen mit Apfelmus aus und bekleckern sich dabei. Der Eifer macht mich niedergeschlagen, der Geruch nach in Fett Ausgebackenem auch, ich springe auf und öffne einen Fensterflügel so weit, dass die Papierservietten im Luftzug taumeln. Wir sitzen schweigend, bis eine Schwesterschülerin kommt, um die Tabletts wieder abzuholen. Die Nachbarin reinigt die Zahnprothese, indem sie die letzten Schlucke Tee zum Gurgeln benutzt; Lotte schaut angewidert und bittet um den Rollator. Auf dem Bett sitzend wischt sie Gesicht und Hände mit einem Waschlappen ab,
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