Unter der Hand (German Edition)
imstande, das winzige Genick zu brechen.
Dabei sind wir alle vier auch ohne Wettrennen außer Atem.
Auf der Heimfahrt schlafen Parwiz und Anja ein; im Auto breitet sich der verlässliche Geruch nach Stall, saftiger Grasnarbe und den Zwetschgen aus, die Heinrich und ich aus einer Tüte auf meinem Schoß essen. Er wirft die Kerne aus dem halbgeöffneten Fenster, schaut gelegentlich zu mir hin. Seine Augen, ernst, freundlich, ergreifend. In seinem Blick spannt sich etwas auf, eine Bejahung, umfassend, mit funkelnden, blinkenden Einsprengseln; eben: ausgesäte Sterne. Noch nie hat mich ein Blick so gegrüßt.
Ich muss eingenickt sein, kein Wunder beim Dreiklang Kuss, Wein, Sonne, dennoch überrascht es mich. Offenbar kann der Ausfall der Radarüberwachung überlebt werden. Als ich die Augen aufschlage, parkt Heinrich gerade vor meiner Haustür ein; der Kern der letzten verspeisten Zwetschge bleibt als Pfand in meinem Mund.
Sechzehn
In der Wohnung der
d’Annunzios
wurde Platz geschaffen für knapp fünfzig Gäste. Der große Esstisch wurde unter die Fensterreihe geschoben und dient als Buffettafel. An kleinen Bistrotischen können die Gäste stehen, essen und trinken. Da es regnet, hat die Signora – Ina, mit Namen – mich am Eingang platziert, um die Regenschirme in Empfang zu nehmen. Zwei Drittel der Gäste sind mittlerweile da, wie ein schweres Segel hängt die nasse Regenluft über den schwirrenden Stimmen, dem Klirren von Gläsern und schwerem Schmuck, dem Gelächter, das mal hier, mal da im Raum aufflackert, in rasanten Umschwüngen und Richtungswechseln, als gäbe ein unsichtbarer Dirigent den Einsatz. Herr
d’Annunzio
ist für die Musik zuständig und beschwert den Anfang des Festes mit einer Arie aus Donizettis Oper
Anna Bolena
(Vico wäre selig). Anna wird von ihrem Mann Heinrich VIII. zugunsten der Rivalin entmachtet und verstoßen. Das weiß ich noch aus meinem Schnellkurs in Belcanto. Heute berührt mich die Verzweiflung der Frau, die selbst betrog und intrigierte, um den König zu kapern, zutiefst, und sie hatte mich noch vor wenigen Wochen kalt gelassen.
Ich trage eine weiße Halbschürze über einem Kleid, das ich zum fünfundsiebzigsten Geburtstag meiner Mutter gekauft habe: Nachtblau, die Farbe erinnert an die kleinen Samtbettchen, die Ringen, Kettchen und Armbändern in Schmuckschachteln bereitet werden. In sie geschmiegt, sieht noch der schlichteste Ring wie etwas Kostbares aus. Mal hoffen, dass dieses Kleid ähnlich wirkt. Ich habe mir außerdem die Lippen geschminkt und die Wimpern getuscht. Vor drei Tagen habe ich Heinrich geküsst. Am Telefon gestern hat er gesagt, unseren Kuss im Stall würde er noch ins nächste Leben mitnehmen. Glaubst du denn an ein Leben nach dem Tod? Nein, hat er geantwortet, das ist ein abstraktes Lob. Und, als ich schwieg, hinzugefügt: ein metaphorisches.
Ich nehme die Schirme entgegen, die mir mal lächelnd, mal wortlos, mal gleichgültig gereicht werden, und bleibe traurig an Heinrichs Satz hängen.
Auf einem Schirm steht:
Das ist kein Schirm
. Er ist schreiend rosa und gehört zu einer Dame, die die Signora der Allgemeinheit als
Salonlöwin
vorstellt. Wer bei Deborah – so heißt sie – nicht eingeladen ist, der zählt nicht. Deborah strahlt mich an, die Zähne phosphoreszieren im gebräunten Gesicht.
Wie geht’s heute so?, fragt sie, und ich antworte brav, dass ich nicht klagen kann.
Das ist keine Lüge
.
Deborahs Mann, Halbglatze, randlose Brille, leichter Sprachfehler, schüttelt mir die Hand und sagt
Servus
. Es ist mir unangenehm, weil meine Hände von den Schirmen ganz nass sind; in der Tat wischt er seine Rechte am Hosenbein mit einer Geste ab, als hätte er einen Molch darin gehalten. Was ja nicht ganz falsch ist.
Wie immer kommen die Künstler zu spät: ein Schriftstellerehepaar und zwei Maler, deren Werke den Callas, Lilien und Orchideen irgendwie brünstig Gesellschaft leisten. Der Schriftsteller ist reizend, aber gleichgültig, er trägt nur die Maske des buchstäblich an allem Interessierten, an der unwichtigsten Kreatur – also an mir oder dem Regenwurm – genauso wie an der großen Politik, den Bettgeschichten der Nächsten und dem Königsberger-KlopseRezept der Großmutter. Ich habe ihn bereits bei einigen Anlässen dieser Art gesehen, und er fragt mich immer nach Würzburg: Sie sind doch aus Würzburg? Ah, der Steinwein!
Nein, erwidere ich auch heute, ich komme vom Rhein.
Ja, der Rhein, die Weine von dort sind weit besser, als es
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