Unter der Hand (German Edition)
bei Oliver, der bis dahin mit großer Ruhe und Bedächtigkeit beachtliche Mengen gegessen und getrunken hat. So, als müsse er Speicher auffüllen. Hände wie Schaufeln, in denen Messer und Gabel Chirurgenbestecken gleichen.
Oliver beginnt vom Kranio-Sakral-Gelenk zu schwärmen, das eigentlich gar kein Gelenk sei, da unbeweglich, aber das im menschlichen Skelett an delikatester Stelle wichtigste Aufgaben zu erfüllen habe, vergleichbar denen der Organe Herz und Hirn. Das kenne ich doch, denke ich, das ist doch die Stelle, die Franz immer schmerzte, beim Aufstehen, beim Umdrehen im Bett. Nun hört Nina die Seufzer, nun massiert Nina – sicher sehr sanft! – den Übergang vom Steißbein zu den Pobacken, bis sich Franz’ sommersprossige Haut an der behandelten Stelle tief rötet. All das denke ich mit einer gewissen Zufriedenheit. Sowohl über mein Eingeweihtsein als auch über den neuerdings gepaarten Zustand der Welt. Oliver einmal ausgenommen. Auch er wird jemand finden; eine Frau, die unter dem Druck dieser riesenhaften, behutsamen Hände als Gewissheit erfahren wird, dass ihr in dieser Welt nichts Schlimmes mehr zustoßen kann. Zudem sitzt ihm schließlich am heutigen Abend die Glücksfee persönlich gegenüber. Die morgen ihren Chef treffen soll, der den Glücksauftrag erneuern und der Glücksfee Dampf unter den Flügeln machen wird. Wir prosten einander zu. Olivers Lippen glänzen wie eingefettet, als könne er Gedanken lesen, tupft er sie mit der Serviette ab und legt diese zusammengefaltet neben seinen Teller. Ich senke den Blick und fühle mich indiskret.
Am Ende des Abends, nachdem Franz sein beeindruckendes Schnapssortiment auf dem abgeräumten Tisch dargeboten und wir reichlich davon Gebrauch gemacht haben, lädt mich Nina ein, mit ihr in der kommenden Woche auf einen Cat-Stevens-Revival-Abend zu gehen.
Ich sage blindlings zu, sie erklärt mir – vergeblich –, wo das Nest liegt, das in einem alten Gasthof über eine winzige Theaterbühne verfügt, die der Sohn der Schauspielerin Maria Schell bespielt. Wir sind alle betrunken; am liebsten würde ich meine Liebe zur Menschheit im Allgemeinen und zu Heinrich im Besonderen ausposaunen. Wir verabschieden uns gerührt und innig, in Olivers Umarmung verzwerge ich. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm einen töchterlichen Kuss auf die glatt rasierte Wange zu drücken. Seine großen Hände spüre ich im Rücken wie einen Airbag. Als wir uns voneinander lösen und in die Augen schauen, erkenne ich: Das ist Oreste! Oreste, der Koch aus dem paradiesischen Kuraufenthalt, Oreste, der Dessert-Zeremonienmeister und Küchenministrant! Heute in Zivil. Ich muss sehr betrunken sein.
Auf dem Weg zur U-Bahn räkelt sich der Himmel über mir besternt wie sonst nur in Meeresnähe. Ich spähe ihn aus und entdecke die glücklichste Konstellation: Das
Große Pferd
– was sonst! Trakehnia genannt: Es leuchtet über Lotte, Heinrich und mir und all denen, die neue Sternbilder nicht anzweifeln, sondern begrüßen. Meinetwegen auch über Doubles von Cat Stevens und über Nina, Franz und Vico. Wie müde ich bin; dabei liegt ein Tag ohne Arbeit hinter mir. Es ist das Leben selbst, das Überstunden verlangt, unbezahlte, versteht sich, und ich wurde nun schon einmal besonders früh zum Antritt gezwungen. Und neuerdings schufte ich für einen Schuft, des Großen Ausbeuters Vertreter auf Erden. Im Suff werde ich erfinderisch, lieber Vico, und du wirst befördert: Vom kleinen Aufschneider zum Weltenbeweger. Morgen werfe ich mich für dich in Schale, hoffen wir, dass sie hält. In meinem Kopf ein Gefühl wie beim Schleudergang der Waschmaschine: Alles verwirbelt und wird zusammengepresst, ich drücke mich in die Sitznische, den Kopf an die kühle Fensterscheibe gelehnt, und lasse alle auftreten, Nina voran. Mir ihren gotisch zarten Madonnahänden, puppenhaft geradezu, wie will sie damit die großflächigen Muskelverspannungen ihrer Patienten lösen? Es sind eher Handarbeitshände, Klöppeln, Sticken, Müßiges. Wie bei Lotte. Der kleine Stier in Parwiz’ Faust. Oliver-Orestes Riesenhand, in die ich leicht gepasst hätte, damals. Schwenk zurück zu Nina: Alles in allem eine anmutige Person mit herrlichen Augen und einem Lachen, das ergreift. Vermutlich liegt sie jetzt in diesem Moment in Franz’ Armen, angetrunken, ein wenig albern, zu viel gegessen, und sagt zwei, drei Sätze über mich – ganz nett deine Ex, was ist eigentlich mit ihrem kleinen Finger? –, bevor sie
Weitere Kostenlose Bücher