Unter Deutschen
mit Adolf Hitler auch in ihrer Abseitigkeit zu verstehen versucht.
In den zahlreichen Ansprachen im Verlauf seines Staatsbesuches im Juni 1963 erwähnt er jedoch mit keinem Wort, dass er sich jemals im früheren Nazi-Deutschland aufgehalten hat. Obwohl er mit Köln, Frankfurt und Berlin dieselben Städte besucht und mit dem Kölner Dom sogar dasselbe Gebäude; obwohl seine Gastgeber Bemerkungen machen, die er aufgreifen könnte (etwa wenn der Frankfurter Bürgermeister in seiner Begrüßung davon spricht, frühere Präsidenten seien vor ihrer Amtszeit in dieser Stadt gewesen); und obwohl es naheliegen würde, die Demokratisierung des Landes im Vergleich mit 1937 oder seine Friedfertigkeit im Gegensatz zu 1939 durch entsprechende Hinweise hervorzuheben.
In einer Erklärung am Frankfurter Römerberg bezieht sich Kennedy en passant auf einen nicht weiter beschriebenen Aufenthalt in der Stadt im Jahr 1948 (als Kongressabgeordneter, zur Zeit der Berlin-Blockade). Nur in einem Toast auf Willy Brandt, den Regierenden Bürgermeister von West-Berlin, kommt er auf seine Reise im Sommer 1945 zu sprechen: »Das letzte Mal kam ich im Juli 1945 nach Berlin, und ich sah eine Stadt in Ruinen. Wenn ich jetzt diese hellen und blitzblanken Gebäude sehe und, was noch viel wichtiger ist, diese hellen und strahlenden jungen Gesichter, dann bilde ich mir nicht ein, die zurückliegenden achtzehn Jahre wären einfach gewesen.«
Als er mit Brandt vor dem Brandenburger Tor steht, vertraut Kennedy ihm an, dass er bereits vor dem Krieg in Berlin gewesen ist – dort drüben auf der anderen Seite, im Hotel Adlon. In den öffentlichen Reden aber werden die drei frühen Reisen allenfalls indirekt angedeutet. So fordert der Präsident vor dem Rathaus Schönebergdie Vertreter eines neuen Isolationismus auf, selbst nach Berlin zu reisen, weil die Erfahrung vor Ort ihre Einstellung prägen und ihr Verhältnis zur Diktatur bestimmen werde: »Let them come to Berlin.« Indem er diese Worte in aufeinanderfolgenden Aussagen jeweils wiederholt, bildet er eine rhetorische Figur, eine vierteilige Epipher, die seiner Botschaft Nachdruck verleiht: »Let them come to Berlin.« Die einzelnen Glieder dieser Figur können für die wiederholten Reisen stehen, die seine eigene Entwicklung angeregt haben: »Let them come to Berlin.« Mit dem abschließenden Element wechselt der Redner als Reisender in die für ihn fremde Sprache, als würde er das Gesagte nun auf sich selbst beziehen: »Lasst sie nach Berlin kommen.« (Beziehungsweise »Lust z nach Bearlin comen«, um noch einmal aus dem Spickzettel zu zitieren, auf dem sich Kennedy seine Aussprachehilfen notiert hatte.)
Wer den Gegensatz zwischen »freier Welt« und Kommunismus nicht begreife, sagt Kennedy hier, wer glaube, der Kommunismus bringe wirtschaftlichen Fortschritt, und wer vielleicht sogar meine, dem Kommunismus gehöre die Zukunft – der solle nach Berlin kommen, das heißt: sich an der Mauer von der Aggressivität, von der Gewalt und vom Scheitern dieses Systems selbst überzeugen. Und vor der wohl größten Menschenmenge, die ihm jemals zugejubelt hat, versteigt sich der Präsident sogar zu der Behauptung, dies gelte auch für denjenigen, der überhaupt eine Zusammenarbeit mit dem Kommunismus für möglich halte. Der Sohn des Appeasement -Verfechters hat sich zum Kalten Krieger gewandelt. In dem Land, das diesen Wandelprovoziert hatte, verkündet er sein Programm gegen den Totalitarismus am entschiedensten.
Und der Staatsgast hinterließ noch eine weitere, eine letzte Anspielung auf seine früheren Reisen. Bei einem Empfang durch den Ministerpräsidenten von Hessen, Georg August Zinn, im Kurhaus Wiesbaden (am 25. Juni 1963) sagte Kennedy: »Wenn ich aus dem Weißen Haus ausziehe, wann immer das sein wird, werde ich meinem Nachfolger im Schreibtisch einen Umschlag hinterlassen, auf dem steht: ›Nur in sehr traurigen Momenten öffnen.‹ Er wird nur die Worte enthalten: ›Besuche Deutschland!‹«
Als er tags darauf Deutschland verlässt und sich auf dem Berliner Flughafen Tegel von Bundeskanzler Adenauer verabschiedet, nimmt Kennedy diesen Gedanken wieder auf (»Go to Germany!«). Er weitet die »sehr traurigen Momente« (»saddest moments«) zu allgemeiner »Mutlosigkeit« (»a time of some discouragement«), die ein Besuch in Deutschland beenden könne. Und er ergänzt seine Bemerkung durch einen Satz über sich selbst, als wolle er sich an die früheren Erfahrungen, die er auf seinen Reisen
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