Unter die Haut: Roman (German Edition)
Reste seines Gewissens ein. Er hatte sich eine Weile in der Nähe von Jasmines Haus herumgetrieben – gefährlich nahe. Nachdem er von dort geflohen war, war er direkt hierher gekommen. Mit etwas Glück hatte er in das Gebäude eindringen können, aber dieses Glück hatte ihn gleich wieder verlassen.
Er wusste nicht, wie er in die Wohnung der Ärztin kommen sollte, ohne sich zu erkennen zu geben. Er war schließlich kein Einbrecher – bisher hatte er immer die Gelegenheit genutzt, wenn eine Frau ihre Tür öffnete. Daher hatte er einfach geklingelt. Das bedeutete allerdings, dass er seine Anonymität vergessen konnte. Er würde sie umbringen müssen. Der Gedanke bereitete ihm nicht gerade Freude, aber es blieb ihm wohl nichts anders übrig.
Und die Ärztin war schließlich selbst daran schuld.
Es kam ihm äußerst gelegen, dass sie ihm von sich aus den perfekten Vorwand lieferte, sie von hier wegzubringen. Vielleicht würde er ihr nicht allzu sehr wehtun, bevor er sie umbrachte. Er war ehrlich überrascht gewesen, sie nicht in der Wohnung des Cops nebenan zu finden, wo er es zuerst probiert hatte. Er hatte keine Ahnung, was er mit dem Cop hätte anstellen sollen, daher war es eine überaus glückliche Fügung, dass er sie allein antraf. Wenn er weiter auf diese Fügung setzen wollte, dann musste er sie von hier fortschaffen und eine möglichst große Entfernung zwischen sich und den langen Arm des Gesetzes bringen.
Er streckte die Hand aus. »Kommen Sie«, drängte er. »Jaz braucht Ihre Hilfe, aber sie wollte nicht, dass Sie sich selbst hinters Steuer setzen.«
»Ja, natürlich.« Ivy griff nach seiner Hand und warf dabei unwillkürlich einen kurzen Blick darauf. Da entdeckte sie den schwachen weißen Rand unter seinen Fingernägeln, an der Nagelhaut und in den feinen Falten an den Gelenken. In diesem Moment setzte ihr Herz kurz aus.
Als es wieder zu schlagen begann, tat es das so heftig, dass sie Angst bekam, er könnte es hören. Oh Gott. Sie war schon zu lange Ärztin, um diesen Puder nicht sofort als das zu erkennen, was er war.
Dann verdrängte Wut den Schrecken. Dieser Scheißkerl – wie konnte jemand nur so arrogant sein! Man brauchte ja nicht einmal eine Nagelbürste, um diesen verdammten Puder zu entfernen, es genügte, wenn man die Hände kurz unters Wasser hielt, um das feine Talkum, das an den Händen haften blieb, wenn man seine OP-Handschuhe auszog, abzuwaschen. Aber er hatte offensichtlich nur mal eben kurz die Hände aneinander geschlagen, und das war’s.
Vincent hatte nach Verlassen der Bar eigentlich vorgehabt, direkt nach Hause zu fahren und dort auf Ivy zu warten. Aber kaum war er auf die Straße getreten, hatte er gemerkt, dass er viel zu aufgedreht war, um es in einer engen Wohnung auszuhalten – schließlich wollte er sie, während er auf Ivy wartete, nicht in ein Trümmerfeld verwandeln. Und Eile war wohl auch kaum nötig. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn bis in die frühen Morgenstunden warten lassen würde, nur um ihn auf die Folter zu spannen.
Die Bürgersteige an der First Avenue am Pioneer Square waren außerordentlich breit, aber die vielen Tische, die dort bei schönem Wetter vor den Lokalen standen, zwangen die Fußgänger zu einer Art Slalomlauf. Es war ein warmer Sommerabend, und trotz der späten Stunde waren die Straßen voller Menschen. Vincent bahnte sich mit vorgeschobenen Schultern einen Weg durch die Horden von Touristen, Obdachlosen und Nachtschwärmern, vorbei an neonbeleuchteten In-Kneipen und exotischen Restaurants. Er blieb unter dem Schild des South End Steam Bath stehen, ohne dem jungen Ausrufer Beachtung zu schenken, der direkt neben ihm auf einem Barhocker saß und rief: »Sieben Clubs für sieben Kröten!«, und überlegte, was er als Nächstes machen sollte.
Die Straßenlampen im Stil der Jahrhundertwende mit ihren drei Kugeln leuchteten im Wettstreit mit den bunten Neonreklamen und einem fast vollen Mond jeden Winkel aus. In ihrem Licht sahen die Bäume auf dem Grünstreifen in der Mitte der Avenue ganz gescheckt aus, und die Blumenkörbe, die an den Laternenpfosten befestigt waren, traten deutlich hervor. Schwermütiger Rhythm and Blues drang auf die Straße, zusammen mit dicken Rauchschwaden, die jedes Mal durch die Türen der Clubs entwichen, wenn sie geöffnet wurden. Nichts von alledem bemerkte Vincent, was ihm gar nicht gleichsah. In Gedanken versunken, hatte er kein Auge für die niedlichen jungen Dinger in ihren kurzen
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