Unter die Haut: Roman (German Edition)
Die meiste Zeit beobachtete er jedoch Ivy, die immer noch mit den anderen Frauen am Tisch saß.
Sie war das glatte Gegenteil von LaDonna. Er wusste, dass es nicht gerecht war, Vergleiche anzustellen, aber er konnte nicht anders. Schon rein äußerlich hatten sie nichts gemeinsam. LaDonna war eher klein gewesen und beinahe so dunkelhäutig wie er. Ihr Aussehen war ihr immer äu ßerst wichtig gewesen, und ihre größte Sorge schien stets ihrer Frisur und ihren Fingernägeln zu gelten. Das war auch eines der Hauptthemen in ihren Gesprächen gewesen. Sie hatte eine Vorliebe für leuchtende Farben und aufreizende Kleidung. Bei ihr hatte er sich nie so anstrengen müssen, wie er es heute beinahe bei Ivy getan hatte, um mehr als einen flüchtigen Blick auf die verlockenden Rundungen in diesem braven kleinen Mieder zu erhaschen, das sie trug.
Die Unterschiede reichten jedoch viel weiter. Vincent versuchte, sich vorzustellen, dass seine Exfrau mit den anderen Frauen zusammensaß oder sich bemühte, einer schüchternen jungen Mutter das Gefühl zu vermitteln, dass die Erziehung ihres Kindes genauso wichtig war wie die Tätigkeit einer Ärztin. Er schnaubte. Eine absurde Vorstellung. LaDonna hatte die Frauen für gewöhnlich links liegen lassen. Sie war immer dort zu finden, wo die Männer waren, und das hätte ihm eigentlich zu denken geben sollen.
Als die Sonne unterzugehen begann, gesellten sich die Frauen zu ihren Männern. Vincent verscheuchte alle Gedanken an LaDonna aus seinem Kopf. Zum Teufel mit ihr. Er war sie los, es ging ihm gut, warum über sie nachgrübeln? Der Abend war friedlich und warm, die Unterhaltung gut, das Bier kalt. Der Vollmond tauchte den Garten der Grahams in einen Schimmer. Was konnte man sich mehr wünschen?
Freu dich bloß nicht zu früh, meldete sich eine Stimme in seinem Kopf zu Wort.
Als im Haus das Telefon läutete, ahnte er noch nichts. Am Rand seines Bewusstseins registrierte er, dass die Fliegentür mit einem Knall zuschlug, als Anna ins Haus lief, um abzuheben, und gleich darauf noch einmal, als sie wieder in den Garten kam. Im Übrigen galt seine Aufmerksamkeit jedoch der Diskussion, die er gerade mit Keith und Ivy über Rock’n’ Roll versus klassische Musik führte. Er lächelte zu Anna hoch, als sie sich über ihn beugte, nahm ihre Hand, die sie ihm auf die Schulter gelegt hatte, und hielt sie fest, bis er fertig geredet hatte. In dem Augenblick, in dem er zu sprechen aufhörte, um Luft zu holen, drückte sie seine Finger.
»Tut mir Leid, dass ich deine gewichtigen Ausführungen unterbrechen muss«, sagte sie spöttisch, »aber da ist ein Anruf für dich.«
11
»Dieser Hurensohn.« Vincent legte langsam den Hörer auf und drehte sich von dem Telefontischchen weg. Er strich sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirn. »Dieser verfluchte Hurensohn!«
Zugegeben, es war nicht wirklich eine Überraschung. Aber als er dem Dienst habenden Sergeant und seinem Kollegen, der heute Nacht Bereitschaft hatte, die Nummer von Keith gegeben hatte, damit sie ihn benachrichtigen konnten, falls sein Vollmondtäter wieder zuschlug, hatte er gehofft, ein solcher Anruf würde ausbleiben.
Scheiße.
Dabei hatte er eigentlich von vornherein gewusst, dass seine Hoffnung vergeblich war. Bis jetzt hatte der Kerl noch keinen Monat ausgesetzt, Vincent hatte also keinen Grund zu der Annahme, dass er ihm ausgerechnet in dieser Vollmondnacht eine Pause gönnen würde. Im Gegenteil, er hatte sogar fest damit gerechnet, dass er keinen ungestörten Abend verbringen würde, allerdings war er so damit beschäftigt gewesen, es sich zur Abwechslung mal gut gehen zu lassen, dass er irgendwann überhaupt nicht mehr daran gedacht hatte.
Die Frage war: Was sollte er jetzt machen, auf der Grillparty bleiben – was ihm am liebsten gewesen wäre – oder gehen? Seine Stellenbeschreibung enthielt keinen Passus, der es erforderte, dass er noch heute Nacht mit dem Opfer sprach. Und er verspürte auch keineswegs den dringenden Wunsch loszuziehen, um irgendeine unglückliche Frau zu vernehmen, die wahrscheinlich sowieso viel zu traumatisiert war, um eine brauchbare Aussage zu machen. Er könnte getrost bis Montag damit warten … und normalerweise hätte er das auch getan.
Das Problem war nur, dass dieser Fall alles andere als normal war. Er unterschied sich grundlegend von nahezu jedem anderen Fall, mit dem er jemals zu tun gehabt hatte.
Statistisch gesehen – und seine Erfahrungen bestätigten das – war
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