Unter die Haut: Roman (German Edition)
bei sieben von zehn vergewaltigten Frauen der Täter jemand, den sie kannten oder mit dem sie zumindest flüchtig bekannt waren, von einem Unbekannten begangene Serienvergewaltigungen waren dagegen eine ganz andere Sache.
Nicht, dass er noch nie Fälle bearbeitet hätte, bei denen die Frau von einem ihr unbekannten Mann sexuell missbraucht worden war. Er hatte es jedoch noch nie mit einem Fall wie diesem zu tun gehabt, bei dem der Vergewaltiger so viel Sorgfalt walten ließ, wenn er seine Tat beging, und er hatte es auch noch nie mit einem Täter zu tun gehabt, der ein Ritual daraus machte. Vergewaltiger trugen im Allgemeinen keine Skimasken, und für gewöhnlich hatte er wenigstens einen Hinweis, mit dem er arbeiten konnte, und er ging so lange immer wieder alle Details von vorne durch, bis sie ihm schließlich einen sei es auch noch so vagen Anhaltspunkt lieferten, der ihm weiterhalf. Aber dieser Kerl …
Verdammter Mist. Er musste mit dem Opfer reden; eigentlich war ihm von der Sekunde an, in der Anna ihn ans Telefon geholt hatte, klar gewesen, dass er gar keine andere Wahl hatte. Auch wenn man es in seiner Abteilung nicht von ihm erwartete, hielt er es für seine Pflicht.
Vincent sah an sich hinunter, betrachtete das rote T-Shirt, die Flip-Flops und die abgeschnittenen Jeans und stieß einen leisen Fluch aus. Er musste zuerst nach Hause fahren und sich umziehen. Aus einem der schief abgeschnittenen Beine seiner Levis lugte die Tasche hervor, und die Ränder waren völlig ausgefranst. Für eine Grillparty mochte dieser Aufzug in Ordnung sein, aber er konnte darin unmöglich am Bett eines Opfers im Krankenhaus aufkreuzen.
Auf der Rückfahrt saß Ivy schweigend neben ihm, sie hatte den Kopf zur Seite gedreht und sah nachdenklich aus dem Fenster. Vincent ertappte sich dabei, wie er immer wieder einen verstohlenen Blick auf ihr Profil warf.
»Tut mir Leid wegen des hastigen Aufbruchs«, sagte er schließlich, und das meinte er ernst. Sie hatte sich amüsiert, und er verdarb ihr nur ungern den Rest des Abends.
Vertrauen war jedoch nicht gerade seine starke Seite, und er hatte keine Sekunde lang in Erwägung gezogen, einen anderen zu bitten, sie nach Hause zu bringen. Er hatte gesehen, wie viel Anklang sie bei seinen Kollegen gefunden hatte – und nicht nur bei den Frauen. Es war ihm nicht entgangen, wie beispielsweise Ryan Bell sie den ganzen Abend über mit Blicken verfolgt hatte. Der Kerl war groß, blond und als Herzensbrecher bekannt. Vincent hätte sie niemals allein zurückgelassen.
Überrascht von seiner Entschuldigung wandte Ivy ihm ihr Gesicht zu und sah ihn an. »Das macht mir nichts aus«, versicherte sie ihm. »Aber, Vincent …?« Sie drehte sich auf ihrem Sitz ganz zu ihm herum. »Dass wir so früh gegangen sind, hat doch etwas mit dem Vergewaltiger zu tun, der mir diese Karten geschickt hat, nicht wahr?«
Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein, und er musste im Stillen seine Meinung revidieren. Er hatte eigentlich angenommen, sie sei deshalb so wortkarg, weil sie sich darüber ärgerte, die Party so früh verlassen zu müssen. Stattdessen hatte sie sich Gedanken über den Grund dafür gemacht und war zu einem Schluss gekommen, der sie offensichtlich betroffen machte.
Er zögerte, und für einen kurzen Moment war er ernsthaft in Versuchung zu lügen. Allerdings war er ein so ungeübter Lügner, dass er ein paar Sekunden zu lang brauchte, um sich eine plausibel klingende Ausrede einfallen zu lassen, mit der er sie hätte beruhigen können.
Mittlerweile sagte Ivy mit einem ungeduldigen Stirnrunzeln: »Hör mal, du brauchst mich nicht in Watte zu packen, okay? Du hast gesagt, bei deiner Arbeit sei ein Problem aufgetaucht, das keinen Aufschub dulde, und ich bin nicht völlig naiv, Vincent.« Sie deutete mit dem ausgestreckten Finger durch die Windschutzscheibe auf den nächtlichen Himmel und stellte nüchtern fest: »Heute Nacht ist Vollmond. Er hat wieder eine Frau vergewaltigt, nicht wahr?«
»Ja.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu und wünschte, er wäre ein besserer Lügner, als er ihre besorgte Miene sah. Aber jetzt war es zu spät. »Ich ziehe mich nur schnell um, wenn ich dich zu Hause abgeliefert habe, und dann fahre ich ins Krankenhaus, um herauszufinden, ob mir das Opfer irgendetwas sagen kann.«
»Du lieber Gott«, flüsterte sie. »Wohin haben sie sie gebracht?«
»Ins Swedish.« Zumindest in der Hinsicht konnte er sie beruhigen. Ihr Krankenhaus hatte dieses Mal nichts damit
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