Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
wandte sich ab. »Mein Gott, was habe ich getan?«, murmelte er.
Als der Maler das hörte, packte er den Lord am Arm, schüttelte ihn. »Was meint Ihr damit? Sprecht, was ist es, das Ihr getan habt? Ihr habt sie doch nicht geschlagen?«
Ruthven befreite sich müde von der Hand des Mannes. »Ich habe viel Schlimmeres getan. Dachte ich doch, sie betrügt mich mit Euch.«
»Was? Wie könnt Ihr so von ihr denken? Es gibt kein reineres und ehrlicheres Geschöpf auf Erden als sie.«
»Es gab«, murmelte Ruthven tonlos. »Es gab. Sie ist dahin. Von meiner Hand gemeuchelt.«
Nie zuvor hatte der Lord solchen Hass gesehen, wie er jetzt in den Augen des Malers loderte. Mit einer Stimme gleich dem Donner sprach er ein Urteil über den Lord, schlimmer als es jeder Richter hätte tun können. »Fluch und Schande über Euch, Lord Ruthven. Ein Mann wie Ihr verdient es nicht, solch reine Liebe zu besitzen. Verdient nicht zu leben, noch zu sterben und nicht dieselbe Sonne zu sehen, die für sie erstrahlte. Ich verfluche Euch, Ruthven Wallham. Mag Eure Seele keinen Frieden finden und keine Ruhe, solange Ihr auf Erden weilt. Und dies mag sein für alle Zeit.« Mehr Worte kamen nicht über seine Lippen, ehe Ruthven ihn zum Schweigen brachte.
Sie genügten.
Die Schuld zweier Morde war mehr, als Ruthvens Seele ertragen konnte.
In der Nacht stürzte er sich von der Spitze des Burgturmes, eine Woche später begrub man ihn an Lady Silvies Seite in der Familiengruft.
* * *
Ruthven starrte in die Flammen. So war es damals geschehen. Während Silvies Gebeine noch heute dort ruhten, war er beim nächsten Vollmond erwacht und wandelte seitdem auf Erden – als das, was die Menschen einen Wiedergänger nannten, einen Vampir. Er trank menschliches Blut und fand keine Ruhe, keinen Frieden, keine Liebe. Doch damit nicht genug. Der Fluch setzte sich fort. In den letzten tausend Jahren hatte er Silvie stets wiedergefunden, nur in anderer Gestalt. Und stets starb sie durch seine Hand, seine Blutgier, wenn er seinen Durst an ihr stillte. Erst im letzten Lebenstropfen erkannte er ihre Seele. Er war dazu verdammt, sie zu töten, wie er es einst getan hatte, um die Schuld damit immer größer zu machen.
So auch im Jahre 1402 in einem kleinen Dorf auf dem englischen Land.
* * *
Es war eine Nacht wie diese – Winter, sehr kalt. Er stand vor dem Fenster eines schäbigen Wirtshauses und blickte hinein. Von drinnen erklang Musik. Ruthven betrachtete einen Moment die hölzerne Eingangstür. Schnee fiel unentwegt vom wolkenverhangenen Himmel und blieb auf seiner Schulter liegen. Er litt Hunger, brennenden Hunger. Seine vampirische Natur verlangte nach Blut. In der einfachen Taverne würde es leicht sein, sich ein Opfer auszusuchen.
Er schüttelte den Schnee von seiner Kleidung, dann betrat er die Taverne. Wärme und der Geruch von Bier und Fett schlugen ihm entgegen. Ruthven schaute sich um. Ein Tisch war noch frei. An den anderen saßen die Tagelöhner, Bauern und Dorfbewohner, tranken Bier und Wein. Schankmägde mit tief ausgeschnittenen Blusen und wallenden Röcken über den runden Hüften huschten zwischen den Tischen umher, balancierten Krüge, Becher und Teller mit Essen zu den Gästen. Dabei mussten sie sich beständig gegen vorwitzige Hände und anzügliche Sprüche wehren. Niemand beachtete Ruthven, was ihm nur recht war. So konnte er sich in Ruhe ein Opfer wählen. Langsam bahnte er sich den Weg zu dem freien Tisch, setzte sich und winkte in die Richtung der Theke. Der fette, vollbärtige Wirt nickte und stieß jemanden an, den Ruthven nicht sehen konnte. Gleich darauf kam ein junges Mädchen mit scheuem Blick zu ihm.
Sie war keine zwanzig Jahre alt und hatte die langen schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden. Die Kleidung war ärmlich, betonte ihre Rundungen jedoch vortrefflich. Ihr unschuldiges Lächeln brannte sich in Ruthvens Blick. Er hatte sein Opfer gefunden.
»Was darf ich Euch bringen, edler Herr?«, fragte sie, als sie seinen Tisch erreichte.
»Einen Rotwein bitte, holde Maid«, antwortete er freundlich und lächelte.
Ihre Augen lächelten zurück, sie war diese Höflichkeit nicht gewohnt, wusste es daher umso mehr zu schätzen.
Welch reizendes Geschöpf. Er würde eine Weile mit ihr spielen, ihr Hoffnung machen. Dann, wenn sie ihm ganz und gar vertraute, würde er sie an einen stillen Ort locken, seine Zähne in das weiße, weiche Fleisch ihrer Kehle senken und sie aussaugen.
Menschen mit Hoffnung besaßen das köstlichste
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