Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
stolperte er sogar.
Nach fast einer Stunde war er so tief ins Gehölz eingedrungen, dass niemand je die Leiche finden würde. Mit seinen Krallen brach er den gefrorenen Boden unter einer hohen Tanne auf und schaufelte ein Grab. Er zitterte vor Trauer, nahm Antonia ein letztes Mal in den Arm und hauchte einen Kuss auf ihre kalten bläulichen Lippen. Dann ließ er sie in die Vertiefung im Boden gleiten und bedeckte ihren Leib mit Erde. Ein letzter markerschütternder Schrei hallte durch den winterlichen Wald, dann erhob sich Ruthven in die Nacht. In seiner Wut auf Gott und sich selbst außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen, flog er im Mondschein ziellos über das Land.
* * *
Tränen tropften aus seinen Augen in den roten Wein. Es bemerkte es nicht, versunken in die Gedanken an eine der schrecklichsten Nächte in seinem langen Leben. So schrecklich wie jede Nacht, in der er sie wieder verlor. Doch in dieser speziellen war noch etwas anderes geschehen. Zum ersten Mal hatte er dieses eine Elixier gefunden, das ihm Frieden bringen konnte. Das seine Trauer und sein Leid besänftigte – für kurze Zeit.
Ruhelos zog er umher, nachdem er Antonia in ihrem kalten, einsamen Grab zurückgelassen hatte. In der Nähe eines kleinen Dorfes landete er schließlich auf dem starken Ast einer Eiche. Der seichte Wind strich durch sein Haar, während Ruthven über die schneebedeckte Landschaft sah. Seine Tränen fielen als kleine Eistropfen zu Boden. Er wollte nicht mehr leben, denn er ertrug den Schmerz und die Trauer über ihren Verlust nicht länger. Es war genug. Niemals wieder sollte es geschehen. Wie in Trance ritzte er sich mit seinen scharfen Krallen die Pulsadern auf. Sofort quoll Blut hervor und tropfte in den Schnee.
Es war Zeit zu sterben. Ruthven schloss die Augen.
Da stieg ein verlockender Duft in seine Nase. Blut – kein gewöhnliches Blut. Etwas daran war anders, lockte ihn. In seiner Trauer und Verzweiflung geschwächt, konnte er sich des Versprechens, das in diesem Duft lag, nicht erwehren. Wenn seine Seelengefährtin ihr Leben hatte lassen müssen, warum dann nicht auch dieses Geschöpf mit dem süßen Blut? Was spielte es für eine Rolle? Abrupt öffnete er die Augen und fixierte das Wohnhaus eines kleinen Gehöftes. Er sprang von dem Ast herunter und landete in der gefrierenden Lache seines eigenen Blutes. Die Wunde an seinem Handgelenk schloss sich, jetzt, wo er sich nicht mehr darauf konzentrierte, sie ausbluten zu lassen. Heute Nacht würde er noch einmal töten. Aus Gier, aus Rache, und weil er diesem Wesen mit dem süßen Blut das Leben im Angesicht von Silvies Tod nicht gönnte.
Er lachte leise, während er auf das Haus zuging und dieser köstliche Duft immer stärker wurde. Das Feuer des Wahnsinns brannte in ihm. Seine Reißzähne wuchsen zu voller Länge, seine Augen verwandelten sich in ein tiefes Schwarz. Die letzten Meter überwand er mit ausgebreiteten Armen im Flug. Einem dunklen Engel gleich landete er vor der Tür des schäbigen Hauses. Die Menschen, die hier wohnten, gehörten zur armen Landbevölkerung. Eine kurze Handbewegung von ihm, und die hölzerne Pforte barst in tausend Stücke. Splitter regneten in das kleine Haus, und der Windstoß blies fast alle Kerzen aus. Nur eine warf ein schwaches Licht.
Eine Frau saß auf einem Stuhl, einen Säugling an der Brust. Erschrocken presste sie das Kind schützend an sich und stammelte: »Wer seid Ihr und was wollt Ihr? Ich warne Euch, mein Mann wird gleich wieder da sein.«
Eine Lüge, wie Ruthven in ihrem Geist las. Der Mann saß in der Taverne, wo er sich wie jeden Abend betrank, ehe er nach Hause kam, um seine Frau zu schlagen und zu schänden.
Ruthven duckte sich unter dem niedrigen Türrahmen und trat ein. Die armselige Hütte bestand aus nur einem Raum. Eine Kochstelle in der Mitte, ein wackliger Tisch mit zwei Stühlen, ein schmales Bett und ein Strohlager für das Baby. Mehr gab es nicht. Ruthvens Augen funkelten. Mit seinem bloßen Willen fegte er die Möbel beiseite. Die Kochstelle kippte um, und ein brennender Scheit steckte die Felle in Brand, die auf dem Boden lagen. Ruthven beachtete die Flammen nicht, fixierte nur das Kind. Ja, das Kind, denn es war die Quelle dieses Duftes. Er musste dieses Kind haben, sein Blut trinken. An die Mutter verschwendete er keinen Gedanken. Sie war in seinem Wahnsinn nur Abfall.
»Was wollt Ihr?«, fragte die Frau noch einmal, wich mit weit aufgerissenen Augen zur Wand zurück. Ihr Instinkt warnte
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