Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
ihr viele Männer schöne Augen, doch Silvie liebte nur ihn.
Dann, in ihrem dritten Ehejahr, begann sie plötzlich, heimlich allein hinunter ins Dorf zu gehen. Sie achtete darauf, dass er nicht zu Hause war, und schlich dann, in ihren dunklen, weiten Umhang gehüllt, aus dem seitlichen Burgtor hinaus. Anfangs bemerkte er es nicht. Doch eines Tages vergaß er seinen Bogen, als er zur Jagd ritt, und kehrte um. Er erkannte sie schon aus der Ferne, sah, wie sie sich unsicher umschaute, sich vergewisserte, dass ihr niemand folgte, um dann über Feldwege ins Dorf zu laufen.
Ruthven folgte ihr.
Sie verschwand im Haus eines allein lebenden Mannes. Ruthven versteckte sich in der Nähe und wartete. Zwei Stunden später kam sie wieder heraus, die Wangen gerötet, schlich zur Burg zurück, wo sie ihn bei seiner Ankunft freudestrahlend erwartete, als sei nichts geschehen.
Ruthven ließ sich nichts anmerken, aber er befragte die Diener. Die bestätigten ihm, dass Lady Silvie seit mehreren Wochen, immer wenn der Lord außer Haus war, ebenfalls die Burg verließ. Dabei wünschte sie keine Begleitung, und meist teilte sie ihren Ausflug auch niemandem mit.
Schließlich, kurz vor ihrem dritten Hochzeitstag, stellte Ruthven seiner Gemahlin eine Falle. Er gab vor, zu den Nachbarn zu reiten und erst am späten Abend wieder heimzukehren. Doch tatsächlich zügelte er sein Pferd außer Sichtweite der Burg und ritt eine halbe Stunde später zurück. Lady Silvie war nicht mehr zu Hause. Er wartete in ihren Gemächern auf sie. Kurz vor Sonnenuntergang kam sie zurück und erschrak, als sie ihren Gatten in dem großen Stuhl am steinernen Kamin sitzen sah.
»Wo wart Ihr, Mylady?«, fragte er. Zorn brodelte in seiner Stimme.
»Mylord, ich war nur im Dorf.«
»Und was habt Ihr dort getan?«
Sie errötete. »Das ... kann ich Euch nicht sagen, Mylord.«
Ihre Reaktion genügte. Er sprang mit solcher Wut auf, dass der Stuhl nach hinten kippte, war mit zwei Schritten bei ihr, packte ihr Haar und zog ihren Kopf nach hinten. Silvie schrie schmerzvoll auf.
»Dann werde ich es Euch sagen, Mylady. Ist es nicht so, dass Ihr in die Hütte dieses Tagediebes geht? Jedes Mal, wenn ich Euch auf der Burg zurücklasse?«
»Mylord, Ihr tut mir weh«, rief sie. »Es ist nicht so, wie Ihr denkt. Bitte, glaubt mir.«
Doch Ruthven ließ sich nicht beruhigen. Er war taub für ihre Beteuerungen. Wollte ihre Lügen nicht hören.
»Ihr errötet wie eine Jungfrau. Dabei ist alles andere als Unschuld in Euch. Was wollt Ihr sonst im Hause eines allein stehenden Mannes, wenn nicht die Beine für ihn spreizen?«
Er schlug ihr ins Gesicht, so fest, dass ihre Lippe aufplatzte. Wieder beteuerte sie, dass er sich irre, dass alles ganz anders sei und sie nur ihn allein liebe. Dabei hielt sie ein in Leinen gewickeltes Päckchen vor ihre Brust, als könne es ihr Schutz bieten. Doch es gab keinen Schutz vor dem Zorn des Lords.
Wie genau es geschah, konnte Ruthven später nicht mehr sagen. Am Ende lag Silvie am Boden, schwarze Male auf der Haut von seinen Schlägen und einem zertrümmerten Schädel, als er sie wieder und wieder gegen den steinernen Kamin geschleudert hatte, bis ihr das Blut in Strömen über das Gesicht lief, ihr blondes Haar verklebte und das weiße Kleid besudelte. Sie rührte sich nicht mehr, kein Atemzug hob ihre Brust. Da erst riss Ruthven ihr grob das Päckchen aus der Hand, das ihre toten Finger noch immer umklammert hielten. Er schlug das Leinentuch zurück – ein Schrei erstarb in seiner Kehle. Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen, als er das Unrecht erkannte, das er begangen hatte. In der Hand hielt er ein Bild – ihr Bild –, aufs Vortrefflichste gemalt, von dem jungen Künstler, der in dem Haus im Dorf lebte, in das Silvie wochenlang gegangen war. Und mit ihrer Handschrift stand darunter: »Für meine einzige Liebe, Ruthven, zu unserem Hochzeitstag. Selbst in den dunkelsten Stunden seid Ihr meine Sonne. Eure Silvie.«
Er eilte hinunter ins Dorf mit tränenverschleiertem Blick, das Bild in der Hand. Stürmte in das Haus des Malers, packte ihn am Kragen und hielt ihm das Gemälde vors Gesicht.
»Sagt mir die Wahrheit. Womit hat sie Euch entlohnt? Und lügt mich nicht an.«
Die Blick des Mannes war offen und ehrlich. »Sie bat mich darum, sie zu malen, als Geschenk zu Eurem Hochzeitstag. Mein Lohn war nur, dass ich morgen an Eurem Fest zugegen sein dürfte, um es vor allen Gästen zu enthüllen.«
Kraftlos ließ Ruthven ihn los und
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