Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
ihn das Leben mit einem azurblauen Himmel zwischen aschgrauen, schiefen Giebeln und dem goldenen Licht eines neuen Tages.
»Bald bist du wieder gesund, und dann will ich dich wieder auf der Straße sehen, Firminus Becket«, so flüsterte die knurrende Maggie mit der ihr größtmöglichen Zärtlichkeit. »Das Leben ist nicht wohlfeil.«
* * *
Mittelgang
Die Tage blieben längst nicht immer golden und ihre Himmel nicht immer blau. Womöglich nahm auch nur der Schmutz auf der Scheibe zu und jener der Welt die letzte Farbe, denn sie ergraute zusehendst. Es bekümmerte Firminus, da es seiner Aussicht nicht barmherzig war.
Er litt im Grunde keinen Mangel, denn Margarete Graft pflegte ihn schon recht. Sie säuberte ihn und seine Bettpfanne, fütterte ihn mit heißen, zerdrückten Pellkartoffeln oder Gemüsebrei, gab ihm Wasser zu trinken und zuweilen auch mal einen Tee. Gelegentlich rang sie sich nebst der mütterlichen Fürsorge zu einer Zärtlichkeit hin, die Firminus eher Ärgeres befürchten ließ, erinnerte sie ihn dabei doch stets daran, dass er auf die Füße zu kommen hatte, sodass er imstande sei, wieder für sie zu arbeiten. Wenn sie ihm von ihren Sorgen redete, die sie vorgab für all die Kinder zu hegen, dann ahnte Firminus die stille Anklage, die sie wider ihn erhob. Dabei wäre ihm nichts lieber gewesen, als sich rühren und aufstehen, vor die Türe dieses erbärmlichen Ortes treten zu können, um sich Gewissheit zu verschaffen, ob die Welt wahrhaftig im Ganzen grau und hässlich geworden war.
Allein er konnte keinen Finger rühren und seinen Kopf nicht wenden, und auch die Lider musste Maggie ihm so manches Mal für die Nacht schließen und des Morgens wieder öffnen. Schlucken und Ausscheiden trug sich unter Schmerzen zu, aber er nahm es zumeist nur wenig wahr – als geschehe es ohne sein Zutun. Dafür aber befasste er sich unentwegt mit dem fortwährenden Übermaß an Übelkeit, Sodbrennen und Schwindel. Er hatte dabei den Eindruck, die Welt drehe sich um ihn herum schneller, weil er an ihrer Bewegung nicht teilhaben konnte. Einzig die Zeit widersprach diesem Empfinden, dehnte sie sich doch schier ins Unendliche. Es ängstigte ihn, sich auf Ewigkeit der Lähmung ausgeliefert zu sehen, und mit den Tagen spürte er eine rüde Beklemmung seine Brust umfassen. Manches Mal nahm er all die Ängste und Befürchtungen, die Leiden und Schmerzen nicht im Geringsten wahr, dafür rührten sie ihn ein anderes Mal zu bitteren Tränen. Er schämte sich.
Am dumpfen Ende irgendeines Tages kam Margarete Graft und schien seltsam frohgemut zu sein. Sie half ihm, sich zu erleichtern, säuberte ihn flüchtig und schüttelte ihm sogar zum ersten Mal das Kissen auf. Danach brachte sie ihm einen dampfenden Brei aus Erbsen und begann, ihn zu füttern.
»Heute war ein guter Tag für dich, Firm, denk nur an«, begann sie feierlich, »ich komme von der Hinrichtung dieses Scheusals. Ich sage dir, da war wahrhaftig einiges los. Die Gassen voll, der Platz ausgefüllt bis in die letzte, dreckige Ecke. Und dann, man glaubt es kaum, ein schlechterdings abnorm riesiger Galgen. Einen solchen Turm hat es vormals sicher nie gegeben. Man konnte nicht auf die oberste Plattform schauen, wenn man zu weit vorne stand. Da sah man nur die steilen Gerüste, so hoch hatten sie den Galgen gesetzt. Du hättest deine Freude gehabt.«
Maggie grunzte vor offenherzigem Entzücken und schabte ihm mit dem Löffel Erbsenbrei vom Kinn. »Und als sie ihn dann holten, das Schwein, brüllte die Menge und fluchte auf den Affen. Das übertönte sogar das Läuten von St. Sepulchre. Aber als er dann erschien, ging ein Raunen durch die Masse, ich kann dir sagen, die hatten alle einen gewaltigen Schiss in der Hose. Er war bestimmt weit über neun Fuß hoch, ein End zum Fürchten; dabei dünn und ausgemergelt, trug einen schwarzen Anzug und hatte Beine so lang wie Fallrohre. Hände wie Schaufeln mit langen, dünnen Fingern – widerlich anzusehen.«
Sie schüttelte sich und ihre anfängliche Begeisterung wich einer betroffenen Fassungslosigkeit, dass sie sogar innehielt, Firminus zu füttern. Auch in ihm schüttelte sich etwas. Die Umklammerung seiner Brust schnürte ihm den Atem ab, denn er stellte sich den Mann vor, wie man ihn zum Galgen führte. Margarete Graft hat ihm erzählt, dass er Hunderte von Kindern auf dem Gewissen haben mochte. Doch diese Gegebenheit schreckte Firminus weit weniger als ein Gang zum Schafott, bei dem man dem Spott und dem Hass des
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