Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
umherschaute und nach einem Ausweg suchte. Beruhigend redete er auf das Bündel Elend ein. Sie wehrte sich. Ihre Zähne klapperten. Ihr Gebiss zeigte Lücken auf. Einen Großteil ihrer Zähne hatte sie bereits verloren. Sie konnte nicht richtig sprechen, sondern winselte wie eine Greisin kurz vor dem Tod. Kauernd saß sie unter dem Busch. Ihre Handballen drückten sich gegen die bleiche Haut der abgemagerten Beine. Sie streckte die Zunge nach Grassow aus. Dieser wusste sich nicht anders zu helfen und versetzte ihr eine Ohrfeige.
* * *
II – Mitten im Wald
Das schwarze Tier heulte. Seit zwei Stunden war die Sonne gesunken, und über das Tal senkte sich die Nachtruhe. Das Holz der Hütte knarzte. Das Köhlern des Tages roch noch nach. Marie hatte sich ins Bett gelegt. Es war kalt, denn draußen herrschte Winter. Schneeflocken bedeckten den Waldboden. Der Wind rüttelte an den Fensterläden. Marie kauerte sich im Bett zusammen und stellte sich vor, sie wäre in die Gebärmutter ihrer Mutter zurückgekehrt.
Das Fruchtwasser wies einen seltsamen Geschmack auf: salzig, beinahe ätzend. Marie krümmte sich. Sie wimmerte. Es hatte sich verschlimmert, nachdem ihr Onkel gestorben war. Eine Woche lag er in der Ecke. Erst als der Förster kam, um den wöchentlichen Schmaus – den selbstgebrannten Schnaps – einzunehmen, wurde Maries Onkel stocksteif aufgefunden. Er wurde von den Leichendienern abgeholt und Marie in die Obhut Grassows gebracht. Dieser stellte bei ihr eine Verstörung fest. Dies führte er auf das Ableben ihres Onkels zurück, merkte aber bald, dass sie zu fauchen anfing, wenn er bestimmte Gesten machte. In der Nacht legte sie sich nicht aufs Bett, sondern unter selbiges. Grassow ließ sie zunächst gewähren. Zuweilen hatte er im Dorf mit schwierigen Kindern zu tun, die er meist durch eine lustige Idee auf seine Seite zog: einen Vormittag Drachensteigen lassen, Dämme im Bach bauen ... Bei Marie fruchteten solche Versuche nicht. So legte er sie auf eine Daunendecke in die Ecke seiner kleinen Wohnung und überließ sie ihrem Hindämmern.
Grassow zog währenddessen Erkundigungen im Kohlerevier ein. Maries Onkel fiel nie auf und verrichtete seine Arbeit pflichtbewusst, was nicht unbedingt selbstverständlich in diesem Revier war. Sein Ableben stieß auf Verunsicherung, doch machte man sich keine weiteren Gedanken, denn es war für einen verarmten Köhler nicht ausgeschlossen, letztlich vom Ruß seiner Arbeit erdrückt zu werden. Der Lungenteufel wurde diese Krankheit im Revier genannt. Ein wenig verunsichert zog Grassow ab; er hatte nichts wesentlich Neues über Dredmar Madsen in Erfahrung bringen können.
Durch Nachforschungen im städtischen Amtsgericht hatte er erfahren, dass Madsen allein geblieben war, keine Kinder hatte und Marie ihm nach dem Tod seiner Schwester zur Vormundschaft übergeben wurde. Zu jener Zeit wurden die Umstände selten geprüft, in die ein zur Waise gewordenes Kind überstellt wurde. Madsen besaß kaum Geld für sich allein, musste sich fast die ganze Woche von Kartoffeln ernähren. Nur am Wochenende gab es ein wenig Fisch vom Markt, Fleisch eigentlich nur zu Ostern und Weihnachten. Seine Unzufriedenheit und Einsamkeit betäubte Madsen mit selbstgebranntem Schnaps. Zunehmend verlor er sein Augenlicht, was ihn zuweilen in der Nacht wie einen Wolf heulen ließ. Marie bedeutete ihm nur einen zusätzlichen Ballast. Er verstand nicht viel von Frauen, schon gar nicht von jungen. Sie fing aber an, sich nützlich zu machen. Sie putzte, schrubbte, kochte und schürte das Feuer im Winter. Sich mitzuteilen hatten sie nicht viel, der Altersunterschied war zu groß. Madsen spürte eine gewisse Verpflichtung Marie gegenüber. Wenn er auf seiner Pritsche lag, hörte er oft ihr Wimmern aus der Küche. Sie lag neben dem Ofen und jammerte vor sich hin. Wenn es gar nicht mehr aufhören wollte, schaute er nach ihr und erschrak, denn Marie verkrampfte sich, streckte ihre Zunge heraus, kroch in sich zusammen, klagte über Taubheitsgefühle. Verfiel in lästerliche Reden. Das setzte Madsen zu. Er verstand nicht, wie ein Mädchen solche Perversionen haben und vor allem äußern konnte. Seine Mutter sprach kaum, sie war einfach da, bildete den Hintergrund und sorgte für den Wohlstand zu Hause. Madsen wuchs auf einem Bauernhof auf, fürchtete sich vor großen Tieren. Er lief mit sechzehn von zu Hause weg und fing als Gelegenheitsarbeiter auf dem Feld an, bis er von einem älteren Herrn zu den Köhlern
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