Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
gebracht wurde. Dort galt er aufgrund seiner kleinen Statur, leicht untersetzt, nichts. Doch er arbeitete hart, härter als viele seiner Kumpane. Schließlich akzeptierten sie ihn in ihren Reihen. Er arbeitete, aß und trank am Abend, ging ins Bett, stieg am nächsten Tag von der Pritsche zeitig wieder auf. Arbeitete weiter, kannte keinen Schmerz, hatte sich diese Regungen abgewöhnt. Für ihn glomm ein Scheit im Ofen, um das Essen zu kochen und warm zu halten. Marie schaute danach, dass das Feuer nie ausging.
Die Tage und Jahre vergingen. Marie reifte zur Frau, und Madsen wurde allmählich zu einer bitteren Frucht. Seine Zähne faulten, seine Sprache wurde schwerfälliger, und ein Zeh musste ihm vom Feldscher abgenommen werden. Schließlich gab er das Reden ganz auf.
* * *
Zu jener Zeit häuften sich in diesem Teil der Welt seltsame Vorkommnisse. Junge Menschen wurden aufgerissen aufgefunden. Die Meinungen über die Ursache dieses Schreckens gingen weit auseinander. Die Geistlichen argwöhnten die Rückkehr eines Teufels, die Naturforscher gingen von Wölfen aus, der Rest der Bevölkerung glaubte an Vampire. Es wurden Soldaten abgestellt, die regelmäßige Patrouillen ausschickten. Dennoch wurden nach diesem Entschluss noch zwei junge Mädchen gerissen. Ihre Kleider waren völlig zerstört, sie lagen nackt, nur am Hals und an den Oberschenkeln blutend, hinter einem moosbewachsenen Felsen. Man fand sie erst, nachdem die Verwesung eingesetzt hatte, ließ sie auf einem Karren ins Dorf bringen, zur Wiedererkennung durch die Verwandtschaft. An der Beerdigung nahmen die Bewohner des gesamten Tals teil. Eine ohnmächtige Wut machte sich in allen breit. Die Regierung sandte einen Repräsentanten, der sich im Rathaus der Kreisstadt einrichtete und die besorgten Fragen der Bürgerschaft und Bauern beantwortete. Am Ende der Erntezeit wurde ein flüchtiger Häftling auf den Feldern geschnappt. Er führte ein Fleischermesser mit sich, schartig vom vielen Gebrauch. Unter dem dringenden Tatverdacht des mehrfachen Mordes wurde er arretiert. Nach der Verhaftung hörten die Vorfälle umgehend auf.
Madsen hatte im frühen Morgen, als es noch dunkel war, immer ein wenig gezittert. Schneller als sonst eilte er über die Felder, ohne sich umzuschauen. Zuweilen spürte er einen fauligen Atem über seinen Rücken gleiten, beherrschte sich jedoch und drehte sich nicht um. Er lief noch schneller, bis er an seiner Flöze ankam. Dort stach er mit der Stange in die andauernde Glut. Keine Flammen züngelten hervor, was ihm anzeigte, dass sich seine Kohle auf dem besten Weg befand. Er musste sie immer wieder umschlagen, damit sich die Glut gleichmäßig verteilen konnte. Nach einiger Zeit sah Madsen Figuren in der Glut, doch niemand wusste hiervon. Er konnte vergessene Königreiche in diesen erstorbenen Flammen erkennen. Ganze Märchenwelten sprachen zu ihm aus der entstehenden Kohle.
Ein König hauste tief unter einem Berg. Mit ihm war sein Volk, das unter einer besonders bleichen Haut zu leiden hatte. Sie konnten nicht anders, als sich vor dem Sonnenlicht zu verbergen. Das trug ihnen böse Reden zu, und sie wurden als Teufel gemieden. Wer das Sonnenlicht scheute, durfte unter ihnen weilen. Es gab vor vielen tausend Jahren einen Grund, warum sie sich tief unter die Erde zurückgezogen hatten: Ein anderes Volk hatte sie ausgelacht, als sie – wie jedes Jahr – ihr großes Fest der Sonne feierten. Sie tanzten nackt um einen großen Haufen Holz, der lichterloh flackerte. Andere, dunkel im Gemüt, sahen diese Freude, verstanden sie nicht und stimmten ein schallendes Gelächter an. Das blasse Volk erstarrte, kehrte um und verließ den Festplatz. Die Sonne hatte sie nackt gemacht, und ihre Haut verlor an Farbe. Grimmig wandten sie sich von dieser Welt ab und stiegen in tiefe Höhlen, in denen sie mit Fackeln ein eigenes Licht schufen. Niemand sollte sie je erblicken, denn dort unten fanden sie ihre Ruhe. Eine Glut glomm, bis der Himmel selbst über sie einstürze.
Madsen drehte die Kohle um. Der Winter grub sich in sein frierendes Fleisch, der Atem verließ in Schwaden seinen Mund. Er dachte bei der Arbeit nie viel nach. Abends wollte er sich dann nur noch auf die Matte legen. Ihm fehlte aber ein wenig Lebensglück. Die Landschaft gab ihm nicht viel, denn mehr als Wald und Kohlebecken sah er nicht. In die Stadt zu fahren, konnte er sich nicht leisten. Allein der Weg zur Arbeit und wieder zurück brachte ein klein wenig Abwechslung ins
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