Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
Leben.
Das Brot schimmelte bereits, es war hart geworden, ungenießbar. Das Wasser wies einen leicht öligen Geschmack auf. Madsens Augen tränten von dem schwefligen Kohledunst, und auf der Zunge lagerte noch der Brandgeruch. Er nahm die Flasche zur Hand, spülte diesen Geschmack herunter und lugte nach Marie. Anscheinend hatte sie sich bereits zum Schlafen niedergelegt, denn er konnte sie nirgendwo erspähen. Er setzte sich an den Küchentisch und stellte die Pulle vor sich hin. Dabei spürte er ein Kribbeln in den Beinen – verspürte Lust. Doch wusste er, dass sie ihm zum Schutze anbefohlen war.
Am liebsten hätte er mit der blanken Faust auf den Tisch gehauen. Doch dann wäre sie aufgewacht und er hätte Ärger am Hals, nämlich sie und ihre verrückten Spielchen, mit den Händen und Beinen. Darauf hatte er nach dem langen Tag keine Lust. Vielleicht sollte er in die Stadt gehen und es sich dort holen? Aber das liebe Geld. Er musste sparen, zurücklegen, damit er endlich diese elende Arbeit an den Nagel hängen konnte. Nur noch einige Monate auf gewissen Luxus verzichten – und endlich in die Freiheit entlassen werden. Der Druck wurde größer. Sein Kopf nahm schon die Form einer Riesenbirne an. Das Platzen stand kurz bevor. Nochmals einen Schluck aus der Flasche. Des Armen Trost ist die Pulle in der schwieligen Hand.
Madsen summte sich, den ausgelaugten Schädel auf das Brett legend, in einen unruhigen Schlaf. Ihm träumte, der Teufel würde seine Marie holen und schänden, was der Schweif hergab.
* * *
»Marie, so kann das nicht weitergehen. Hörst du? Verdammtes Bündel Elend, hörst du mir denn zu?«
Sie kauerte in einer Ecke am Ofen und zitterte.
»Was hast du bei meiner Schwester erlebt? Woher kommen deine Zoten? Antworte!«, brüllte Madsen.
Sie stierte auf den Ofenverschlag. Dahinter knisterte das Holz. Marie fror dennoch und hüllte sich in ihre Weste – ein Erbstück ihrer Mutter.
Madsen verlor die Geduld und nahm Marie, die sich kreischend wehrte. Er ließ sich hiervon nicht beeindrucken und schleppte sie trotz heftigen Widerstands nach draußen und setzte sie in den Schnee.
»Da bleibst du jetzt. So lange, bis du wieder normal sprechen willst.«
Marie horchte in die Stille des angrenzenden Waldes hinein. Die Tiere schienen nicht zu schlafen. Von Zeit zu Zeit war eine Eule zu vernehmen. Unter die Töne mischte sich noch etwas anderes. Geflüsterte Stimmen, aus dem Wald oder von tief unter der Erde. Marie horchte nochmals, die Laute formten sich zu Worten. Undeutlich hörte sie mehrere Stimmen von unterschiedlicher Höhe. Belauschte sie ein Gespräch? Sie redeten, doch was sie sagten, verstand Marie nur in ihrem Innern. Es war wie ein Gefühl der bösen Vorahnung, dass sich etwas durch die Erde wühlte. Etwas aus längst vergessener Zeit. Die Stimmen warnten, dass die Erde schon rissig sei und sich die Furche, die ewig tiefe, verbreitere, bis schließlich die gesamte Welt in sie hinabstürze. Marie riss die Augen auf, wischte sich mit der Hand die Feuchte aus den Augenwinkeln und summte eine Melodie vor sich hin.
Nach einer Viertelstunde kam Madsen aus dem Haus, sah bereits blaue Flecke auf Maries nackten Fersen und holte sie rasch ins Haus. Dort wickelte er sie in Decken ein und gab ihr eine Tasse mit brühheißem Tee. Mehrere Minuten blies Marie nur, dann nippte sie langsam den Trank, und er floss ihre Kehle hinab.
Madsen löschte das Licht und begab sich zu Bett. Morgen musste er wieder früh raus, und die Kohle war in diesem kalten Winter gefragt wie schon seit Jahren nicht mehr. Der Betreiber der Köhlerei hatte die Männer dazu angehalten, mehr zu arbeiten. Mehr Lohn gab es hierfür nicht. Die Kassen waren leer, doch durften sich die Köhler ein Wochenende frei nehmen, sobald das Eis taute. Madsen knurrte, aber er ließ die Mehrarbeit über sich ergehen.
Am nächsten Tag wollte er Marie einen kleinen Blumenstrauß auf dem Heimweg von der Arbeit pflücken. Das sollte sie erstmal beruhigen.
* * *
III – Diebstahl
Grassow musste schon bald seine Lehrtätigkeit aufgeben. Die Pflege Maries beanspruchte ihn zu sehr. Er ließ sie kaum mehr als eine Viertelstunde aus den Augen. Einmal hatte er sie mit einem Messer in der Hand in der Küche vorgefunden. Sofort schlug er es ihr aus der Hand und kam mit einem Schrecken davon. Er versuchte stets, ihre Lebenslust zurückzugewinnen. Vergeblich, denn sie sprach nicht viel, nur das Nötige, das zum Überleben reichte. Sonst hielt sie die
Weitere Kostenlose Bücher