Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
Augen auf einen Punkt in der Ecke; ein wenig bewegten sich hierzu ihre Lippen, als ob sie mit einem Unsichtbaren flüstere.
Nicht eine Minute ließ er sie mehr aus den Augen. Zu viel könnte geschehen. Seine Nachforschungen waren zu einem vorzeitigen Ende gekommen. Nun versuchte er es mit Heilbädern. Martha, eine ältere Frau aus dem Dorf, hatte ihm einige Büschel Kräuter mitgegeben. Zunächst zierte er sich, Marie damit einzureiben, sie ließ es aber wortlos mit sich geschehen. Er meinte sogar ein leichtes Schnurren wahrzunehmen. Ihre Gänsehaut spürte er auf jeder seiner Fingerkuppen.
»Du musst dich jetzt erstmal gehen lassen. Hörst du, Marie, verkrampfe dich nicht schon wieder!«
Sie grinste. Dabei kam ihr schlechtes Gebiss zum Vorschein. Wie konnte sie ihren Körper nur so vernachlässigen?
Marie schien sich nicht viel aus gleichaltrigen Jungen zu machen. Sie war achtzehn. Es wäre an der Zeit, zu ...
Aber was wusste Grassow schon? Marie hielt sich verschlossen. Das Bad tat ihr anscheinend gut, ihre Augen hellten sich auf, ihr Gesicht gewann an Farbe zurück. Nur das Sprechen wollte ihr noch nicht gelingen. Man könnte es mit harmlosen Spielchen versuchen. Ihr Geheimnisse entlocken. Wort für Wort. Die Gefahr, dass sie aber danach völlig verstockte, schien Grassow zu groß. Er verschob die Befragung auf einen späteren Zeitpunkt.
In der Küche rührte er sich ein Omelett zusammen. Marie trocknete sich inzwischen ab und legte bereits ihr Nachthemd an. Er lebte allein, hatte nie an Kinder gedacht. Als es ihm einfiel, war es längst zu spät gewesen, sich eine Frau zu suchen, da hatte er sich mit den Kindern im Unterricht zufriedengegeben. Abends bereitete er sich auf den nächsten Morgen vor, dachte die Fehler der Kinder durch. Dabei versuchte er, in ihre Köpfe zu schauen, zu verstehen, aus welchem Grund sie diese Fehler begangen hatten.
In den Ferien verlor er den Sinn. Allein saß er in seiner Stube und ordnete Erinnerungen, die er auf kleinen Zettelchen notiert hatte, die heillos durcheinander lagen. Lustlos nahm er ein Papier nach dem anderen aus der kleinen Holzkiste und las geduldig die Aufschriften. Wie Runenritzereien kamen sie ihm vor. Beschwor er fremde, längst verendete Götter?
Seit dem Diebstahl im Geschäft seiner Schwester hatte sich Grassow zurückgezogen. Sie verkaufte Schmuck, und er wollte einer heimlichen Liebe ein besonders schönes Geschenk machen. Also wartete er einen Moment lang ab, während seine Schwester nach hinten ins Lager ging und ihn zur Beaufsichtigung des Schmucks im Geschäft ließ. Er nutzte diese Gelegenheit und entwendete ein Brillantkollier. Seine Schwester merkte es nicht sofort, da sie zu einer Messe fuhr. Als sie zurückkehrte, konnte sie den Diebstahl nicht fassen. Es kam zum Bruch. Grassow vertiefte sich in seinen Unterricht und die Kinder und merkte nicht, wie die Fäden seines Lebens entschwanden.
Als er Marie in Obhut nahm, musste er sich kümmern, konnte sich nicht einfach betäuben. Ihre Zerbrechlichkeit faszinierte ihn, was er nie eingestand. Ihr gegenüber zeigte er sich stets fordernd. Sie wollte nicht aufstehen, also drehte er das leichtgewichtige Bett um. Sie flog heraus, blieb zunächst regungslos liegen, bis er sie leicht mit dem Fuß anstieß. Ihr entwich ein kurzer Schrei, sie rappelte sich auf und lief nach draußen. Dort sprang sie in den Wassertrog, der seit Urzeiten vor dem Haus stand. Grassow folgte ihr, die Augen wandte er ab. Erst, nachdem sich Marie mit einem roten Tuch abgetrocknet hatte, blickte er zu ihr hin. Sie war schön, jung. Ihre Zukunft lag im Dunklen. Ihre Sprache im Schweigen. Ihre schwarzen Haare glänzten. Perlmutt des Wassers löste sich langsam in den Strahlen der Sonne auf. Es hatte mittlerweile der Frühling Einzug gehalten. Der Lehrer sah sie, zurückgetreten aus der lauten Kinderschar, vor seinem Haus, an einem Morgen im März.
* * *
Blanckenburg war zufrieden. Die Mädchen hatten bei der Zeremonie letztens gute Arbeit geleistet. Sein Beutel wog viel und das Geld klimperte. Den Teufel für eine Nacht zu beschwören, versprach eine Befriedigung so mancher verirrten Seele. Sie lebten in wilden Zeiten. Sturm und Hagel zerstörten die Ernte des Jahres, Vieh starb an unerklärlichen Pestilenzen, das Elend unter der Bevölkerung nahm zu. Wer konnte, raffte die verbliebenen Schätze zusammen. Die Gerüchte teuflischen Unfugs hielten sich. Wilde Tiere rissen Menschen, die verlassen in verödeten Landschaften
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