Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
nur so ungeschickt hinlegen! Aus der Ecke drangen Stimmen zu ihr herüber. Ein Wehen wie vom Winterwind, der sich gegen den Tau des Frühlings sträubte, aus der Tiefe blies. Danach klang es wie ein verstopftes Ofenrohr.
Marie wisperte »Wer da?« in die Dunkelheit. »Wer da? Unverschämtes Pack!«, entwich es ihr plötzlich. Daraufhin schälte sich aus diesem Klecks aus dunklem Stoff eine Fratze heraus, ein liebliches Gesicht eigentlich, wären da nicht diese knollige Nase, die dicken Tränensäcke und der rote Ausschlag gewesen. Als sich diese Gestalt näherte, sah Marie, dass es sich um keinen Ausschlag, sondern eine natürliche Rötung der Gesichtshaut handelte. Das Wesen war um einiges kleiner als ein gewöhnlicher Mensch und sprach mit knarziger Stimme, als hätte es zu viel Tabak inhaliert.
Es kratzte sich die Nase mehrmals, und darin ähnelte es einer Katze, die ihr Gesicht putzte. Es war allein. Marie wollte wissen, ob es noch Gefährten habe. Es winkte ab, so etwas dürfe sie nicht fragen. Sie wäre eine fremde Frau. Noch dürfe sie nicht mitkommen, noch müsse sie warten, bis sie genau wüssten, ob sie vertrauenswürdig sei. Während des Sprechens verbreitete sich ein leicht muffiger Geruch im Zimmer. Nach faulen Eiern roch es, und Marie rümpfte die Nase. Der Gnom verschwand, und sie lag wieder allein im dunklen Zimmer. Eine leichte Leuchtspur hing noch in der Luft. Ihre Angst hatte bereits abgenommen. Sie wusste, dass in ihr ein Geheimnis schlummerte. Ihr Vormund durfte hiervon nichts erfahren.
In der Kühle der Nacht saß sie gekrümmt in ihrem Bett, die Daunendecke lag über den Kniekehlen. Es fror sie dennoch. Ein Schütteln durchlief ihren Kopf, ihre Zähne fingen zu bibbern an. Sie strich sich mit dem Handrücken mehrmals über die Stirn. Ihre Augen fielen ein, Ränder bildeten sich darunter. In ihrem Magen herrschte eine gefährliche Leere. Sie war erneut den Tränen nahe, legte sich aufs Kissen und schlief nach einer kurzen Weile ein. Morgen würde der Tag in derselben Farbe erscheinen. Weiße Zähne, schwarze Kohle, kalter Winter und wärmender Frühling, Holz und angekokeltes Mädchenhaar. In der Tiefe der Nacht schlief der Kummer. Wenn sich die Sonne zur Mittagshöhe erhob, kehrte der Schmerz zurück. Das helle Licht, der stechende Schmerz in den Schläfen, die verstopfte Nase, der ausgetrocknete Mund, das Ziehen der Herzmuskeln. Ihre Zähne – am nächsten Morgen lagen zwei auf dem Kopfkissen. Ein wenig Blut war mitgekommen. Es bekränzte die beiden Fundstücke.
Grassow schüttelte sie. Er hatte die Zähne bereits an sich genommen. Marie wachte auf, blickte sich verwirrt um.
»Was hat das zu bedeuten?« Er hielt ihr die beiden Zähne entgegen, sie kullerten von einer Seite zur anderen in der zu einer Mulde gefalteten Handfläche.
Marie schüttelte den Kopf, und kleine Tränen liefen aus ihren Augen.
»So kommen wir nicht weiter. Marie, ich werde für einige Tage in die Stadt fahren. Hörst du? Du bist auf dich allein gestellt. In der Küche kommst du ja gut ohne mich zurecht. Nicht wahr?«
Sie schaute bloß verlegen an ihm vorbei. Er zuckte mit den Achseln und ging in sein Zimmer, um seine Koffer für die Reise zu packen.
* * *
IV – Wölfe in der Stadt
Seit einigen Tagen lag ein dichter Nebel über der Stadt. Es war feucht, kalt und stürmisch. Blanckenburg verfluchte die Wettergötter und verließ nur zögerlich sein Haus, um sich in die Kanzlei zu begeben. Das Wasser peitschte auf ihn ein. Er beschleunigte seine Schritte. Dennoch kam er in der Kanzlei triefend an. Er entledigte sich seiner nassen Kleidung und wies seinen Sekretär an, sie zum Trocknen aufzuhängen. Nur spärlich bekleidet saß er in seiner Schreibstube. Bei solch einem Mistwetter würde sowieso kein Bittsteller den Weg zu ihm finden.
Da er nun ganz allein in dem beheizten Zimmer hinter dem schweren Eichenholztisch saß, kamen ihm die Bilder der letzten wölfischen Zusammenkunft in den Sinn. Diese Mädchen hatten zweifelsohne Klasse. Ein wenig mulmig war ihm aber schon, denn sie wurden aus weit entfernt liegenden Grafschaften herbeigeschafft, doch eine Verfolgung der Spur war nie völlig auszuschließen. Die Häscher durfte man zu keiner Sekunde unterschätzen. Wenn es um die Ehre ihrer Töchter ging, entwickelten sie einen unbeschreiblichen Spürsinn. Jede Schweinerei wurde letztlich zu einem gewissen Zeitpunkt immer aufgedeckt. Das wusste Blanckenburg aus der Lektüre der Klassiker. Sie mussten diese Umtriebe
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