Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
sonderlich hoch, denn viele Kranke und Besessene – bei letzterem Wort bekreuzigte sich das Marktweib – würde er zu Forschungszwecken kostenlos behandeln. Er sei nicht nur ein Heiler, sondern ein herausragender Gelehrter seiner Zunft. Das Marktweib war von den komplizierten Wörtern, die sie einstudiert hatte, ganz eingenommen. Auf Grassow machte ihre Lobpreisung keinen geringen Eindruck. Verlieren konnte er hierbei nicht viel. Es kam auf einen Versuch an. Vor allem wollte er Marie aus dieser Dunkelheit führen. Lange konnte und wollte er diese Belastung nicht mehr aushalten.
Auf dem Weg in die Stadt kamen ihm Menschen in Lumpen entgegen, auf ihrem Rücken trugen sie ihr gesamtes Hab und Gut. Die meisten von ihnen gingen barfuß. Er lenkte das Fuhrwerk an dem Haufen Elend vorbei. Einige versuchten, das Verdeck zu lösen, um die Schätze darunter zu erblicken. Grassow nahm die Reitpeitsche zur Hand und verscheuchte die Unverschämten, die ihm Flüche an den Kopf warfen. Als er endlich das Stadttor passieren konnte, entwich ihm ein Seufzer. In der Stadt fuhrwerkten ihm jedoch einige Bauern in die Räder, sodass er fürchten musste, Schäden an seinem Gefährt zu nehmen. Zu ihm eilten einige Söldner, die zusammengenähte Abzeichen der Stadt trugen, als wären sie Söhne derselben. Grassow dankte ihnen flüchtig und fuhr zu der bezeichneten Adresse des Wunderheilers. Ihn erstaunte die beruhigte Lage vor dem Haus, in dem dieser Heiler seine Praxis unterhielt. Am heutigen Tag schien er keinen Besuch zu erhalten. Vielleicht waren die Menschen zu aufgewühlt, um sich ihrer Gebrechen zu entsinnen.
An der Tür hing ein großer Klopfer. Der Klang hallte durch den hinter der Tür liegenden Gang. Lange regte sich nichts, bis ein kleines Männlein öffnete. »Wer da? Ich muss alles allein machen. Ah, heute nehme ich keine Kranken an. Kommen Sie morgen wieder.«
»Ich bin nicht krank«, versetzte Grassow.
»So, so. Das ist ja mal was. Wie kann ich sonst helfen?«
»Ich betreue eine junge Frau, die nicht mehr reden möchte und sich ständig in Krämpfen findet. Das ...«
»Das ist interessant. Kommen Sie doch herein. Kommen Sie. Entschuldigen Sie bitte meine Unfreundlichkeit, aber in diesen Zeiten kann man nie wissen.«
Er zog Grassow in den Gang, schloss rasch die Tür hinter ihm und verriegelte sie mit einer Kette. »Man kann heute nicht wissen. Kommen Sie mit.« Er führte den verunsicherten Lehrer in eine Wohnstube, in der eine Gruppe von Sofamöbeln stand. Grassow setzte sich auf das Nächstbeste. Der Wunderheiler blieb stehen und zuckte mit seinem rechten Gesichtsmuskel. Seine Wange schien ein wenig geschwollen. Ihm stand die Überanstrengung ins Gesicht geschrieben. Eine ungesunde rote Farbe überzog seine Haut. Er bemerkte Grassows stierende Augen. Sein Mund verzog sich zu einem abstürzenden Halbmond.
Aus einem geräumigen Schrank entnahm er zwei Metallplatten, die mit einer Kordel aus Bast verbunden waren. Er holte aus und schlug sie gegeneinander, sodass Grassow zusammenzuckte. Der Heiler lachte hell.
Die Stirn des Lehrers legte sich in Runzeln. »Was soll das denn? Wollen Sie mich verunsichern?«
»Nein, nein. Schildern Sie mir nun Ihr Problem mit der jungen Frau.«
»Nun, es ist nicht so, wie Sie vielleicht denken. Sie wurde nach dem Tod ihrer Mutter in die Obhut ihres Onkels gegeben. Nach dessen Ableben nahm ich mich ihrer an. Er arbeitete bis zuletzt als Köhler; keine richtige Umgebung für ein heranwachsendes Mädchen, wenn Sie mich fragen. Seit seinem Tod spricht sie mit keiner Person mehr. Sie stellt mich vor große Rätsel.«
»Können Sie mir denn die Krämpfe des Mädchens beschreiben?«
»Es ist eine junge Frau.«
»Sicher doch. Sobald die Frau zurückfällt, windet sie sich in den Krämpfen eines Mädchens, das mehr möchte, als ihm zusteht. Das ist nicht ganz einfach für uns Herren zu verstehen. Einen Versuch ist es aber allemal wert.«
»Ich kann Ihre Methode nicht recht einschätzen. Wie Sie sicherlich wissen, gibt es großes Gerede über Ihre – ich sage mal: seltsamen Verfahren. Bevor ich Ihnen meinen Schützling übergebe, will ich sichergehen. Wenn Sie verstehen, was ich meine?«
»Das ist das Los der Entdecker. Zuerst war jeder skeptisch, wollte einem geheimen Einfluss der Sterne nicht trauen. Als ich dann das Fluidum im Körper entdeckte und das Ungleichgewicht in vielen zerbrochenen Körpern wiederherstellte, war das Erstaunen groß. Daraus habe ich mir nie viel gemacht. Es
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