Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
Stunde einen Klassiker der Weltliteratur, die andere verbrachte sie mit den Grundrechenarten. Er freute sich; ließ sie deutlich spüren, dass er Gefallen an diesen Stunden der Belehrung hatte. Ab und zu huschte ein leichtes Lächeln über ihre Lippen. Es hatte noch nicht die Stärke eines solchen erreicht. Kurz davor bogen sich die Ränder ihres kleinen Mundes zurück und verharrten in der Horizontalen. Die Lippen schmälerten sich zu einem kleinen Spalt, der die Zähne wohlwissend verbarg, doch den Atem, einen leicht süßlichen vom Frühstücksrest, entließ.
Es war noch ein weiter Weg in ihre Vergangenheit. Grassow musste sich gedulden.
Das Rechnen fiel ihr nicht schwer, sie hatte aber Mühe mit der Literatur. Oft schmiss sie das Buch weg. Er konnte noch so viel versprechen, sie rührte es nicht mehr an. Die Stille ängstigte sie, wenn ihre Augen über die Buchstaben huschten. Die Zahlen besaßen kein Leben. Sie schob sie von einer Stelle zur anderen; was als Ergebnis nach der Stunde dastand, besaß keinen Bezug zu ihrem Leben. Grassow nötigte sie trotzdem, ab und zu kleine Geschichten zu lesen. Sie müsse es, denn sonst verlöre sie jede Sprache. Ihr war das egal – ihm nicht. Er tröpfelte ihr jedes Wort einzeln ein. Sie schluckte bereitwillig. Der Lebensgeist schien jedoch längst entwichen. Sie legte sich aufs Bettgestell, das ein wenig nach unten nachgab, und schlief bald ein, wiederum gekrümmt, als befände sie sich im Mutterleib.
Grassow saß nebenan und las in einem Buch. Die Seiten blätterte er nach einer gewissen Zeit um, konnte sich aber nicht so recht drauf konzentrieren. Seine Finger knickten die Seite ein. Seitdem er nicht mehr unterrichtete, brauchte er die Bücher nicht mehr. Sie standen nur noch im Regal.
Ab und zu zog er einen Buchrücken heraus und strich zaghaft über den Ledereinband. In dem Buch stand sein vergangenes Leben, verlorengegangen im Taumel der Ereignisse. Er sprach leise zu sich: »Das war einmal. Jetzt ist’s vorbei, einfach so. Da liegt mein Glück begraben. Der Weg zurück ist versperrt.« Er schaute nach Marie. Sie hatte sich wieder versteckt . Irgendwo ist sie sicher unter die Treppe gekrochen, unter das Bett geschlüpft, in einem der Wandschränke verschwunden , dachte er. Dabei fiel ihm ein, dass er schon lange nicht mehr in der Stadt gewesen war. Er musste unbedingt einige Dinge ins Rechte rücken. Vielleicht auch in der Lehranstalt vorbeischauen, um nach Maries Genesung eine Beschäftigung zu haben. Ohne einen Arzt machte er sich keine großen Hoffnungen. Von selbst würde sie kaum wieder zu Verstand kommen. Er wusste nicht einmal, ob sie bereits seit früher Kindheit diese Störungen aufwies.
Ihr verstorbener Onkel barg ein dunkles Geheimnis. Soviel stand fest. Momentan sah er keinen Weg, in dieser Hinsicht jeden Zweifel auszuschließen. Er musste sich gedulden, bis ein Fingerzeig von oben oder tief unten kam. Manchmal ereilte ihn der Gedanke, mit Marie zu verreisen, ihre Gedanken von dem Schatten fortzuziehen. Irgendwohin, möglichst weit weg von dieser Einöde in Hessen. Untertags erwischte er sich beim Fingerknabbern, seine Kuppen waren bereits völlig abgewetzt. Er fand des Nachts oft keinen Schlaf, und dunkle Ahnungen hüllten ihn in lähmende Trägheit. Seinem Frust konnte er keinen Ausdruck verleihen. Zu schwach und ohnmächtig fühlte sich sein übermüdeter Körper an.
* * *
Marie hatte sich aus dem Wandschrank geschlichen, als sie sicher sein konnte, dass ihr Vormund vor das Haus zum Füttern der Hühner ging. Sie schlich in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett. Die Ecke barg eine seltsame Dunkelheit, als ob sich das fehlende Licht zu einem schwarzen Loch verdichtete. Marie war zu müde, um aufzustehen; vom Bett aus, auf dem Kissen ruhend, konnte sie nur einen kleinen Teil der Ecke einsehen. Der Großteil lag in einer wandernden Dunkelheit, als hätten sich die Partikel zu einer Figur zusammengeschlossen. Diese lauerte in ihrem eigenen Gewand. Die Dunkelheit verbarg sich in der Dunkelheit. Schwärzer wurde dieser dunkle Fleck im Zimmer, es blitzten eigenartige weiße Spitzen aus dieser trüben wabernden Masse. Maries Lider fielen zu, doch musste sie erneut aufschauen zu diesem Etwas, das dort lauerte. Hatte sie bereits jede Kraft verloren und die Schwelle überschritten? Ein fürchterlicher Krampf fuhr in ihre Wade. Sie schrie auf, doch der dunkle Fleck blieb konstant in der Ecke dort drüben. Sie massierte verzweifelt ihr Bein. Wie konnte sie sich
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