Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
sie Ekel und Entsetzen. Nein, sie würde nicht länger auf dieser verfluchten Burg bleiben! Gleich am Morgen würde sie Jan drängen, auf der Stelle abzureisen. Sollte der Teufel das Geld holen! Sie würden schon durchkommen. Noch eine Nacht in diesem Gemäuer, das würde sie nicht aushalten!
* * *
Als Julia am Morgen erwachte, sah Schloss Heidebrock längst nicht mehr so bedrückend aus wie am Abend zuvor. Die Sonne schien strahlend hell. Die Tannenwälder rundum leuchteten smaragdgrün. Julia schämte sich ein wenig für die Angst, die sie in der Nacht ausgestanden hatte. Sicher war alles nur ein hässlicher Albtraum gewesen! Nach dem langen, anstrengenden Tag hatte sie sicher schlecht geträumt. Jetzt erschien es ihr albern, Hals über Kopf abzureisen.
In der Halle unten war zum Frühstück gedeckt. Julia erkannte den alten Mann wieder, der so spät nachts angekommen war. Er stellte sich als Professor Jonathan Pike aus London vor. »Ich hoffe«, entschuldigte er sich, »ich habe gestern Nacht nicht das ganze Haus aufgeweckt, aber der Weg war länger als geplant.« Obwohl er Engländer war, sprach er fast akzentfreies Deutsch.
»Was machen Sie hier? Sind Sie Rechtsanwalt?«, erkundigte sich Jan höflich.
»Nein. Ich bin Psychiater – und Parapsychologe. Ein Geisterjäger, wenn Sie so wollen. Herr von Weldern hat mir freundlicherweise gestattet, den Spuk in diesem Haus zu untersuchen.«
Jan schüttelte erstaunt den Kopf. »Wie untersucht man einen Spuk? Ich dachte, Geister huschen durch die Schlüssellöcher, wenn man sie erwischen will?«
»Es gibt Möglichkeiten, wie man sie erwischt«, erwiderte der Professor, ging aber nicht näher darauf ein. Sein Blick hing an Julia. Mit freundlicher Anteilnahme fragte er: »Was ist Ihnen denn zugestoßen, junge Frau?«
»Mir? Wieso?«
»Ihre Hand sieht schlimm aus.« Professor Pike deutete auf ihren Handrücken. Julia sah hin und erschrak. Tatsächlich! Da waren lange, tiefe Kratzer. Sie schmerzten nicht, aber sie sahen übel aus.
Der Professor erhob sich, trat auf sie zu und ergriff ihre Hand. »Wie ist das passiert?«
»Ich weiß nicht. Ich hatte Albträume, und da habe ich mich vielleicht im Schlaf selbst gekratzt.«
»Mag sein. Trotzdem möchte ich die Hand verbinden.« Julia ließ es geschehen, dass er ihre verletzte Hand mit einer Tinktur betupfte und dann mit einem Verband versah. Die Tinktur schien sehr scharf zu sein, denn in der Hand klopfte und pochte es. Aber Julia fühlte eine plötzliche Erleichterung, als sei ein Gift aus ihrem Körper entwichen.
»Herr Bühler hat mich zu einer Rundfahrt durch den Besitz eingeladen – kommen Sie mit?«, fragte der Professor, während er seine Tasche schloss.
Julia und Jan waren sofort einverstanden.
Als sie vor das Tor traten, stand dort ein offener Kutschwagen, vor den zwei Pferde gespannt waren. Der junge Carl Bühler tauchte auf, ein sportlicher Mann, der den Wagen lenkte. Sie fuhren durch die drei Dörfer, die zu Burg Heidebrock gehörten. Die Orte waren klein, mit niedrigen Häusern und bunten Gärten. Professor Pike zeigte sich an allem sehr interessiert. Er stellte viele Fragen, vor allem nach dem örtlichen Aberglauben. Julia lauschte mit halbem Ohr, während sie die romantische Landschaft genoss. Auf halbem Wege zwischen Heidebrock und Fahrning kamen sie an einem seltsamen grünen Buckel vorbei, der sich auf einem Hügelrücken erhob. »Das ist ein Trollgrab«, erklärte Joschka Bühler. »Das heißt ... eigentlich weiß niemand etwas Genaues, außer, dass es sehr alt ist. Man soll große Knochen darin gefunden haben. Deshalb nennt man es ein Trollgrab.«
* * *
Es war schon gegen Abend, als sie nach Heidebrock zurückkehrten. Dort stellten sie überrascht fest, dass Markus von Weldern früher als erwartet angekommen war. Er stand vor dem Burgtor und blickte ihnen entgegen. Der Wind spielte mit seinem blonden Haar. Julia fand, dass er aussah wie ein junger Ritter aus einer Heldensage. Er begrüßte sie freundlich und stellte ihnen dann seine Verlobte Elsa vor, die mit ihm gekommen war. Sie war eine außergewöhnlich schöne Frau, groß und schlank, mit kurzem blonden Haar und blauen Augen, die wie Saphire leuchteten. Eine Schönheit von Kopf bis Fuß – aber kalt wie ein Eisblock.
Julia grüßte höflich, dachte aber insgeheim: Ich mag diese Frau nicht. Elsa ließ sich deutlich anmerken, dass sie das junge Ehepaar nicht als Freunde ihres Verlobten betrachtete, sondern als eine Art niedriger
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