Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
Dienstboten. Ihr Blick glitt verächtlich über Julias Kleid, das nicht aus einer Luxusboutique, sondern aus dem Kaufhaus stammte. Sie erwiderte Jans freundliche Begrüßung mit einem kühlen, hoheitsvollen Kopfnicken. Auch Bühler ließ sie fühlen, dass er in ihren Augen ein Diener war. Und den schüchternen Werner ignorierte sie gänzlich. Als er ihr die Hand reichen wollte, schubste sie ihn ärgerlich weg. Nur den würdevollen Professor Pike wagte sie nicht, so herablassend zu behandeln.
Markus missfiel die Art, wie sich seine Verlobte benahm, das war deutlich zu merken. Aber er wollte wohl keinen Streit anfangen, also schwieg er.
»Sie wollen sicher erst einmal die Burg besichtigen, Herr von Weldern, nicht wahr?«, fragte Bühler, bevor eine peinliche Stille auftreten konnte.
»Ja, natürlich.«
Jan und Julia schlossen sich der Besichtigung an. Auch Professor Pike begleitete sie. Sie wurden wieder durch die düsteren Gänge und gewundenen Treppenhäuser geführt. Vor einer schweren Holztür zögerte Joschka Bühler. »Den Ostturm werden Sie wohl nicht sehen wollen, oder?«
»Warum denn nicht?«, fragte Markus überrascht.
Bühler dämpfte die Stimme. »Das ist der Turm, in dem die Gräfin Samantha starb.«
»Ich möchte ihn sehen.«
Der Verwalter schritt einen langen Korridor entlang, der an der Längsseite des Gebäudes vom Alten Turm zum Ostturm führte. Schließlich kamen sie an eine weitere massive Holztür, die Bühler aufschloss.
Ein feucht-kalter Windhauch wehte heraus. Julia fühlte sich an den Flur erinnert, den sie im Traum entlanggelaufen war. Sie wandte unwillkürlich den Blick – und tatsächlich, da war der schwere grüne Damastvorhang, den sie im Traum gesehen hatte! Von einer plötzlichen inneren Regung ergriffen, eilte sie hin und hob den Vorhang auf. Es war genauso, wie sie geträumt hatte! Dahinter befand sich ein zugemauerter Türbogen mit einem Schlitz knapp über den Dielen!
Markus blieb wie erstarrt stehen. »Ich dachte«, flüsterte er, »ich dachte, es sei längst nichts mehr davon zu sehen!«
»Doch.« Bühler flüsterte ebenfalls, obwohl niemand da war, der sie hätte belauschen können. »Nachdem man die Leiche hinausgetragen und in die Gruft gebracht hatte, wurde die Tür wieder zugemauert. Drinnen ist nichts angerührt worden. Es fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, das Zimmer auszuräumen.«
Markus starrte auf den schmalen Schlitz knapp über dem Boden. Tiefe Finsternis herrschte dahinter. »Was für eine unmenschlich grausame Strafe«, murmelte er. »Was die Frau auch getan hat ...«
»Ich dachte mir, dass Sie das sagen würden«, erwiderte Joschka Bühler. »Aber ich will Ihnen etwas zeigen. Danach werden Sie vielleicht anderer Meinung sein. Kommen Sie mit.« Er wandte sich von der zugemauerten Tür ab und öffnete ein Pförtchen in der Wand. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und schob einen Schlüssel ins Schloss einer Tür, die sich in die Wölbung des Gemäuers schmiegte. »Treten Sie ein«, forderte er und zog die Tür auf.
Ein langer, schmaler Raum mit einer gotischen Decke lag vor ihnen. Die Läden der beiden Fenster im Raum waren geschlossen. Julia blinzelte in das staubige Halbdunkel. Sie sah Ketten, die von der Wand hingen. Als ihr Blick weiterwanderte, erspähte sie zwei mit Gitterstäben verschlossene Nischen – und eine nackte Frau.
Julia prallte verblüfft zurück.
Die Frau stand ganz ruhig da. Ihre Augen waren geschlossen, die Arme hingen am Körper herab. Julia sah deutlich die rot gefärbten Brustwarzen und das blonde Schamhaar. Dann begriff sie, dass es sich um eine künstliche Figur handelte.
Staunend trat sie näher.
»Rühren Sie sie nicht an«, warnte Joschka Bühler. »Und kommen Sie ihr auch nicht zu nahe, es könnte Ihr Tod sein.«
Alle traten gehorsam einen Schritt zurück und starrten die Figur an. Sie stand auf einem flachen Podest. Ihr eiserner Körper war sorgfältig fleischfarben bemalt, die Lippen scharlachrot gefärbt. Das blonde Haar wirkte wie weiches Menschenhaar.
»Treten Sie zurück – Sie auch, Herr Professor, – ich will Ihnen etwas zeigen.« Der Verwalter trat von hinten auf die Figur zu, dann hob er einen großen Stein auf, der daneben lag, und wuchtete ihn auf das Podest. »Der Raum hier war Gräfin Samanthas Folterkammer und dies ihr liebstes Spielzeug. Ein berühmter Uhrmacher hat es für sie gefertigt.«
Im nächsten Augenblick ertönte ein heiseres Geräusch, als räuspere sich jemand. Markus
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