Unter feindlicher Flagge
sie sein allzu ernstes Gemüt als störend, oder sie konnten nicht aufhören, von ihm zu sprechen. Mrs Hertle konnte sich kaum noch erinnern, was sie selbst gedacht hatte, als sie den Freund ihres Mannes vor nunmehr vier Jahren kennenlernte. Seine äußere Erscheinung hatte sie als angenehm empfunden. Er hatte ein nettes, ansprechendes Gesicht mit ausgeprägten Zügen. Das tiefschwarze Haar hatte er zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. Die Nase war ebenmäßig - wohl geformt und ansehnlich, aber ein wenig zu groß geraten. Die Lippen waren voll und wie geschaffen für ein Lächeln. Seine Stirn jedoch war sehr ausgeprägt und verlieh seinem Blick eine gewisse strenge Intensität, die noch durch den Umstand gesteigert wurde, dass ein Auge blau war, während das andere leicht ins Grünliche spielte.
»Die Lords in der Admiralität sind sich seiner Herkunft gewiss bewusst?«, vermutete Henrietta.
Mrs Hertle nickte.
»Ein Wunder, dass er überhaupt ein Offizierspatent hat.«
»Ich fürchte, da hast du recht, Henrietta. Robert will das nicht wahrhaben. In seinen Augen kann Charles nichts falsch machen. Obwohl ich sicher bin, dass er ein guter Seemann und Offizier ist. So etwas sieht Robert sofort.«
»Ich frage mich, was aus ihm wird«, sagte Henrietta und widmete sich nun mit großer Hingabe einem ihrer Fingernägel.
»Ich glaube, seine Zukunft liegt in Amerika. Sein Stiefvater ist ein sehr wohlhabender Bostoner Kaufmann und hat Charles das Kommando auf einem seiner Schiffe angeboten. Noch so ein paar Enttäuschungen, und ich denke, der arme Charles wird dieses Angebot mit anderen Augen sehen.«
»Aber das wäre so erniedrigend - vom Offizier der Royal Navy zum Kapitän eines Kaufmanns abzusteigen, eines amerikanischen Kaufmanns.«
»Das stimmt, aber in Amerika würde man ihn akzeptieren, denke ich. Sein Stiefvater ist ein recht einflussreicher Mann.«
»Also, ich möchte nicht in Boston leben. Du etwa?«
»Wer hat dich gefragt, ob du in Boston leben möchtest, meine liebe Henrietta?«, fragte Mrs Hertle rasch.
»Natürlich niemand«, protestierte sie. »Und ich habe das nicht so gemeint, wie du sehr wohl weißt!«
Mrs Hertle lachte leise über die Reaktion ihrer Cousine. »Rufen wir die Herren zum Tee. Es wird schon spät.«
Ihre Arme und Beine sind lang, ihr Oberkörper schmal, dachte Hayden, und doch saß sie stets in eleganter Haltung auf ihrem Stuhl, ein Ausdruck von Zufriedenheit auf ihrem Gesicht. Hayden verglich die junge Dame unweigerlich mit einer bezaubernden Wassernymphe. Henrietta hielt sich gerade und den Sitten entsprechend, und doch lag etwas Sinnliches in ihren Bewegungen. Für Hayden passte Henriettas ausgeprägte Erscheinung perfekt zu ihrem eher unkonventionellen Benehmen.
Die Carthews, das wusste er, waren eine wohl situierte Familie und entfernte Verwandte von den Hertles. Henriettas Vater, ein bemittelter Gentleman, hatte vorteilhaft geheiratet und widmete sein Leben seinem Steckenpferd, und zwar der Bildung im Allgemeinen und der Bildung der Frauen im Besonderen. Als Vater von sechs Töchtern war Mr Carthews Beschäftigung mit diesem Thema nur allzu verständlich. Seine Töchter hatten sich im Zuge ihrer schulischen Unterweisung manch einem Experiment unterziehen müssen, obwohl den jungen Damen genau das den unverdienten Ruf eines »Blaustrumpfes« eingetragen hatte.
Mrs Hertle neckte ihre Cousine gerade diesbezüglich, als Hayden seine Teetasse hob.
»Wie viele Sprachen sprichst du, meine liebe Henri? Komm schon, sei nicht so bescheiden.«
»Fließend?«, fragte Henrietta. Offenbar hatten die beiden dieses Spielchen schon des Öfteren gespielt.
»Wir beginnen mit den Sprachen, die du fließend beherrschst, und gehen dann zu den anderen über. Waren es nun fünf oder sechs?«
»Du kennst dich besser damit aus als ich«, entgegnete Henrietta.
»Das Englische zählen wir nicht dazu«, meinte Mrs Hertle. »Französisch natürlich.« Mrs Hertle begann, an ihrer schlanken Hand abzuzählen, und suchte kurz Charles' Blick, ehe sie wieder ihre Cousine ansah. »Italienisch, Spanisch, Hochdeutsch, oder war es Niederdeutsch?«
»Beides«, gab Henrietta zu.
»Griechisch und Lateinisch ...«
»Die zählen nicht dazu, da ich sie nur lese.«
»Niederländisch«, fuhr Mrs Hertle fort. »Gibt es da auch eine Hoch- und eine Niedersprache?«
»Hm ...«, machte ihr Opfer und tat so, als wüsste sie es nicht.
Die Hausherrin ging zur anderen Hand über. »Sechs, oder waren wir schon bei
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