Unter feindlicher Flagge
unser nachdenklicher Leutnant Hayden, der seine wahre Natur verborgen hält. Wusstest du übrigens, Henri, dass Mr Hayden ein emsiger Leser ist ...« Doch in diesem Augenblick musste Mrs Hertle den Tisch verlassen und sich um eine Angelegenheit des Haushalts kümmern. Auch Robert entschuldigte sich für einen Moment und verließ den Raum, sodass Hayden plötzlich mit Henrietta allein am Tisch saß. Zunächst schwiegen sie beide, aber bevor Hayden etwas sagen konnte, brach Henrietta das unangenehme Schweigen.
»Wer ist Ihr Lieblingsautor, Leutnant? Mögen Sie Rousseau? Elizabeth erwähnte vorhin, dass Sie den Emile gelesen haben.«
»Ich denke, wenn ich nur ein Buch mit auf See nehmen dürfte, dann wäre das Sterne«, erwiderte Hayden.
Er glaubte, dass Henrietta überrascht war, aber zustimmte.
»Welches denn?«, wollte sie wissen. »Shandy oder die Sentimental Journey?«
»Auf jeden Fall Tristram Shandy. Kennen Sie das?«
»Ja, ein Lieblingsbuch meines Vaters. Er kannte Sterne ein wenig, aber da war er ja nicht der Einzige. Er war über viele Jahre ein ständiger Gast beim Abendessen.«
»Ich hätte ihn auch gern einmal getroffen. Und Sie, Miss Henrietta, wenn ich fragen darf: Was ist Ihr Lieblingsbuch?«
»Jetzt dringen Sie bis in meine privaten Geheimnisse vor, Sir. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen einen Einblick gestatten sollte ...« Sie unterbrach sich, doch das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, zeigte Hayden, dass sie ihn nur necken wollte. »Don Quichotte ist ein großartiger Roman, denke ich. Leider nicht von einem Engländer geschrieben. Haben Sie ihn gelesen?«
»Dafür reicht mein Spanisch nicht.«
»Motteux hat eine akzeptable Übersetzung gemacht.«
»Davon habe ich gehört, aber in meinem begrenzten Wissen sind alle Übersetzungen in der ein oder anderen Hinsicht unzulänglich.«
»Das mag stimmen, aber selbst ein zweitrangiger englischsprachiger Cervantes ist immer noch besser als überhaupt kein Cervantes, oder nicht?«
»Das ist wie bei Schiffen«, sagte Hayden, »ein Schiff 5. Klasse ist besser als kein Schiff.«
»Er hat dich schon so weit, dass ihr über Schiffe redet!«, sagte Mrs Hertle, als sie wieder ins Zimmer rauschte.
»Keineswegs. Wir sprachen über Vorzüge und Nachteile bei Cervantes«, antwortete Henrietta.
»Aha, der Familienpatron der Carthews.« Die Hausherrin nahm wieder Platz. »Wusstest du, dass sich alle in Henriettas Familie gegenseitig Namen der Figuren aus Don Quichotte gaben? Das war so etwas wie ein Spiel bei euch, nicht wahr, Henri? Alle mussten überlegen, welcher Name am besten zu einer der Schwestern und dem Vater passte. Welchen Namen würdest du für Leutnant Hayden aussuchen?«
»Don Quichotte del Mar«, antwortete Henrietta ohne zu zögern.
Mrs Hertle entfuhr ein heiteres Lachen. »Da hast du es, Charles. Du hast die Hauptrolle. Eine Ehre.«
Er nahm Henriettas Lächeln wahr, die sich vielleicht ein wenig auf seine Kosten amüsierte.
Nach dem Abendessen überließ Robert seinem Freund die Kutsche. Hier und da wurde das Rattern der Räder auf dem Kopfsteinpflaster von dem zischenden Geräusch von Wasser unterbrochen, wenn der Wagen durch große Pfützen fuhr und sich ein wenig auf die Seite legte wie ein Boot, das auf Grund läuft. Dunkle Straßen, trübe im Sprühregen. Bei diesem Wetter waren nur Fackelträger und Liebhaber unterwegs.
Als der Kutscher die Pferde an einer Ecke aufnahm, drang der Schein schwankender Fackeln durch die neblige Straße, verzerrt durch die Scheibe der Wagentür. Aus einer Seitengasse kamen Leute, die Gesichter halb beleuchtet, die Hände erhoben. Man fand sich zu einem zwielichtigen Treffen ein. Hayden drückte sich in seinen Sitz, als wolle er sich verstecken, und dann drängte die Gruppe in die Straße - Mitglieder einer Gilde, die breit grinsend durch die Straßen zogen, die Wangen rot vom Gin.
»Merde«, flüsterte Hayden, denn der Anblick war ihm allzu vertraut und weckte böse Erinnerungen an einen anderen Ort - an die Straßen von Paris vor einigen Jahren.
Plötzlich stand ihm wieder jener unglückselige Mann vor Augen, dieser Doué, der trotz der Verbrechen, die man ihm vorgehalten hatte, unschuldig gewesen war, soweit Hayden wusste. Hatte denn irgendjemand auch nur den kleinsten Beweis gehabt, dass jener Doué am Kornmarkt spekulierte oder dass er wirklich gesagt haben sollte, den Hungernden solle man Heu zum Fressen vorwerfen? Die aufgebrachte Meute scherte sich nicht um diese Fragen, als sie ihn zu fassen
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