Unter feindlicher Flagge
Sir? Gibt es einen Grund, die Loyalität der Männer anzuzweifeln?«, fragte Hayden nach.
»Nicht mehr Gründe als Zweifel an der Loyalität aller Matrosen.«
»Ich fürchte, da haben Sie recht, Mr Muhlhauser. Vielleicht sollte ich dafür sorgen, dass Sie eine Pistole erhalten.«
»Ich habe zwei Pistolen in meiner Kabine, danke.« Der Mann sagte dies ohne Prahlerei. Er sah sogar etwas ängstlich aus.
»Dann sind Sie ja gut ausgestattet. Wir sollten auf Mr Hawthorne und seine Seesoldaten vertrauen, dass sie die Besatzung unter Kontrolle halten, und uns wieder unseren Aufgaben widmen.«
Muhlhauser nickte.
Noch jemand trat zu ihnen auf das Vorderdeck.
»Doktor Griffiths, wie geht es Aldrich?«, erkundigte sich Muhlhauser.
»Wie es einem eben geht, wenn einem das Fleisch von den Rippen gerissen wird.«
Diese Worte zogen ein bedrücktes Schweigen nach sich. Doch schließlich ließ sich Muhlhauser zu einer Bemerkung hinreißen und zeigte auf einen Seevogel, der dicht bei der Fregatte im Windschatten eines der Segel in der Luft zu schweben schien. »Was für ein Vogel könnte das sein, Doktor? Wissen Sie es?«
»Klar, das ist ein avis albi, Mr Muhlhauser«, antwortete Griffiths ernst. »Sehr verbreitet in diesem Teil der Welt.«
»Ah«, machte Muhlhauser. »Ich hatte mich schon gefragt ...« Dann schritt er über das Vorderdeck, da der Stückmeister eine Frage an ihn hatte.
»Avis albi, Doktor?«, wiederholte Hayden leise.
»Ist das etwa kein Vogel, Mr Hayden?«
»Doch, es ist ein Vogel.«
»Und ist er etwa nicht weiß? So sieht er mir zumindest aus.«
»Weiß wie das Kielwasser, Doktor.«
»Dann erscheint mir avis albi als passende Beschreibung, oder nicht?«
»Das kann ich nicht leugnen, und ich hoffe, dass unser Gast mit dieser Beschreibung immer zufrieden sein wird.«
Der Schiffsarzt machte eine kleine Verbeugung und verließ das Vorderdeck.
Hayden hatte nicht vergessen, wie pikiert Muhlhauser gewesen war, als er sich von Mr Hawthorne verspottet gefühlt hatte. Wie mochte er nun reagieren, wenn er erfuhr, dass auch Griffiths sich einen Spaß mit ihm machte?
Keine zehn Minuten später hörte Hayden zufällig, wie sich Muhlhauser mit Mr Barthe unterhielt.
»Sehen Sie diesen weißen Vogel dort ...?«, fragte Muhlhauser.
»Ja«, erwiderte Mr Barthe geduldig.
»Der heißt avis albi.«
»Nun, ich weiß nicht, wie die Römer ihn nannten«, erwiderte der Master, »aber wir ungebildeten Seeleute nennen den Vogel Tölpel.«
Einige Zeit darauf stieg Griffiths wieder an Deck und kam auf Hayden zu. Einen Moment lang schaute er zum östlichen Horizont, wie so viele andere an Bord der Themis. »Ihr Freund Bourne will uns also in ein Gefecht verwickeln?«
»Sehr wahrscheinlich.«
»Ist er so vorschnell, wie die Männer sagen?«
Hayden schüttelte den Kopf. »Bei all seinen Unternehmungen geht es ihm in erster Linie um das Leben seiner Mannschaft. Sein Handeln erscheint nur denjenigen als vorschnell, die nicht über Bournes Vorstellungsvermögen verfügen. Denn wie kein anderer sieht er sofort die Schwachstellen beim Feind und ersinnt dann geniale Strategien, um diese Schwächen auszunutzen. Nein, wenn Bourne einmal einen Plan gefasst hat, dann ist er wohl durchdacht.«
»Aber was will er gegen die Batterien an der Küste machen?«
»Oh, Bourne sorgt sich nicht um Küstenbatterien. Sobald wir auf einer Höhe mit einem der französischen Schiffe sind, werden die Batterien von der Küste wohl kaum feuern, da sie ihre eigenen Leute gefährden würden. Solange wir genug Wind haben, können wir in kurzem Abstand zwischen den feindlichen Schiffen hindurchsegeln. Aber natürlich werden wir auch Schäden hinnehmen müssen. Auch wenn man das an Bord der Themis kaum mitbekommt, aber es ist Krieg, Doktor. Ein gewisses Maß an Risiko lässt sich nicht vermeiden.«
Griffiths wandte sich ihm mit einem neugierigen Blick zu. »Mr Hayden, die Aussicht auf ein Gefecht scheint Sie stets in Freude zu versetzen.«
»Wie sollte es auch anders sein, Doktor? Gäbe es nicht ab und an tatsächlich Krieg, wäre dies die ermüdendste Karriere auf der ganzen Welt. Dann könnte man besser Bankangestellter werden oder in einer Anwaltskanzlei arbeiten. Schauen Sie sich doch an, Doktor. Sie hätten gewiss eine chirurgische Praxis in Bath eröffnen können, um sich tagein, tagaus das Wehklagen der alten Damen anzuhören, die von ihren zahllosen Gebrechen erzählen. Aber Sie haben sich für die Navy entschieden. Und dafür muss es einen
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