Unter feindlicher Flagge
unterlegen waren.«
Für einen Moment herrschte Schweigen am Tisch, und Hayden glaubte zu sehen, dass wieder der Ausdruck von Traurigkeit in Lady Hertles Blick kam.
»Wusstest du, dass Lady Hertle einmal Rousseau begegnet ist, Charles?«, sagte Elizabeth Hertle.
»Nein, das wusste ich nicht.«
Lady Hertle lächelte und schüttelte den Kopf. »Er war ein Genie, aber ein Schurke, Mr Hayden. Ein durchtriebener Schurke. Wie man auch nur eines seiner gesprochenen oder geschriebenen Worte ernst nehmen kann, bleibt mir ein Rätsel, denn er folgte keinem anderen Prinzip als der Gier, keiner anderen Sache als der eigenen. Wie er dem Galgen entfliehen konnte, weiß ich nicht, denn gewiss ist manch ein Dieb, der ›edler‹ war als er, gehenkt worden. Aber vielleicht gehöre ich ja auch nur zu den Neidern dieses unbestrittenen Genies. Und dennoch, ich denke, niemand darf von Gesetzen und Sitten ausgenommen werden, ganz gleich, wie begabt jemand ist. Würden Sie mir in diesem Punkt zustimmen?«
»Sicher. Ich war einmal bei den Indianern Kanadas und kann Ihnen versichern, dass sie nicht die edlen Wilden waren, von denen Rousseau sprach, sondern ein Volk, das strenge Sitten und eigene, komplexe Gesetze hatte. Eine Gesellschaft also, die ebenso willkürlich strukturiert und hierarchisch organisiert war wie die in Europa. Das war zumindest mein Eindruck.«
Nach dem Essen begaben sich Hayden und Robert auf die Terrasse, wo Robert rauchte, da Lady Hertle das in ihrem Haus nicht gestattete. Unten im dunklen Sund waren unzählige Lichter von Schiffen zu sehen. Die Nacht war auffallend ruhig.
»Im Augenblick kümmert sich Mr Barthe um dein Schiff?«
»Nein, der Master ist bei seiner Familie an Land. Mr Archer, der Dritte Leutnant, kehrte heute Nachmittag zurück und hat in meiner Abwesenheit das Kommando.«
»Von ihm hast du kaum gesprochen, Charles. Ist er ein guter Offizier?«
»Sehr kompetent, wie ich meine, wenngleich er sich bezüglich seiner Karriere nicht ganz im Klaren zu sein scheint. Vielleicht mangelt es ihm auch bloß an Leidenschaft für die Sache. Ich weiß es nicht. Ich mag ihn jedenfalls. Er ist ein angenehmer Gesprächspartner, doch er ist gern für sich und sucht lieber die Gesellschaft der Midshipmen als die der Offiziere in der Messe.« Hayden zuckte mit den Schultern. »Der Mangel an Ehrgeiz wird seine Karriereaussichten beeinträchtigen, nehme ich an. An seinen Fähigkeiten liegt es jedenfalls nicht.«
»Wahrscheinlich ist ihm die Leidenschaft für den Dienst abhanden gekommen, weil er unter Hart fuhr.«
»Absolut denkbar.«
»Wie gefällt dir Tante Bill?«
»Eine bemerkenswerte Frau. Ich hoffe, dass ich noch so vital bin, wenn ich achtzig werden sollte.«
»Ja. Ich weiß es nicht genau, aber ich nehme an, dass Elizabeth und unsere liebe Henrietta Lady Hertle beerben werden. Die alte Dame besitzt zwar keine Reichtümer, aber dieses Haus und noch ein kleines in London.«
»Warum sagst du mir das, Robert?«, fragte Hayden, obwohl er die Antwort kannte.
»Ich wollte damit nur sagen, dass Henrietta nicht nur ein überaus charmantes Wesen ist, sondern auch stets ihr Auskommen haben wird.«
»Ein Mann mit meinen Aussichten darf nicht auf eine Verbindung mit einer Frau wie Henrietta hoffen. Ihre Familie würde es nie gutheißen.«
»Hast du ihre Familie schon kennengelernt?«
»Du weißt doch, dass ich sie noch nicht kenne.«
»Geh nicht sofort davon aus, was die Carthews gutheißen würden und was nicht. Elizabeth glaubt, dass sich die Eltern in diesen Angelegenheiten von den Wünschen der Töchter leiten lassen. So war es zumindest mit Henriettas älteren Schwestern. Eine von ihnen heiratete einen Medizinstudenten, der es noch nicht weit gebracht hat. Aber selbst das stößt bei den Carthews nicht auf Ablehnung, da er sonst in allen Belangen ein großartiger Bursche ist.«
»Nun, ich bin auch durchaus in der Lage, es zu nichts zu bringen. Macht mich das schon zu einem Heiratskandidaten?«
Robert lachte. »Das vermag ich nicht zu sagen, aber ich habe den Eindruck, dass Miss Henrietta dir ihre Gunst schenkt, und zwar in größerem Maße als anderen jungen Männern, die auf sie aufmerksam geworden sind. Und es gab mehr als nur einen Verehrer.«
»Das glaube ich gern.«
In diesem Augenblick erschien Mrs Hertle in der Tür und rief ihren Mann ins Haus, da Tante Hertle seine Hilfe brauchte. Hayden hingegen beschloss, noch ein wenig länger die frische Luft zu genießen, schätzte Stärke und Richtung
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