Unter Freunden
er war nicht nachtragend, er war immer bereit, allen bei irgendwelchen Arbeiten zu helfen und mitanzupacken, wenn irgendetwas befestigt oder transportiert werden musste. Er half auch denen,die sich über ihn lustig machten, wenn er darum gebeten wurde. Nach einigen Monaten verschwand sein Spitzname Fremdling, und die Mädchen begannen, ihn Moschik zu nennen. Er war Mädchen gegenüber von einer scheuen Zartheit, die im großen Gegensatz stand zu der ruppigen Ausgelassenheit, die wir ihnen gegenüber an den Tag legten. Mosche sprach mit ihnen, als wäre die bloße Tatsache, dass sie Mädchen waren, für ihn geradezu ein Wunder.
Der Unterricht begann morgens um sieben und dauerte bis eins. Danach aßen wir im Speisesaal der Kibbuzschule zu Mittag und machten uns dann von zwei bis vier in den verschiedenen Bereichen an unsere Arbeit. Mosche arbeitete im Hühnerstall, und er bat nie darum, von einem Bereich in den anderen zu wechseln, wie es die meisten von uns taten. Sehr schnell lernte er, das Futter in die Rinnen zu streuen, die Eier von den Brettern entlang der Käfigreihen einzusammeln und sie in die Kartons zu ordnen, das Thermostat im Brutstall einzustellen, die Küken zu versorgen und sie mit einer Spritze zu impfen. Die altgedienten Arbeiter im Hühnerstall, Schraga Szczupak und Zeschka Honig, waren sehr zufrieden mit ihm. Er war ein flinker, fleißiger Arbeiter, schweigsam und gewissenhaft, niemals zerbrach er einEi, niemals vergaß er, frisches Streu in den Kükenställen zu verteilen, niemals kam er zu spät zur Arbeit, und er hatte auch keine Fehlstunden wegen Krankheit oder aus irgendeinem anderen Grund.
David Dagan informierte Rivka Rikover, die Lehrerin: »Ich habe ihm erlaubt, seine Familie zu besuchen, ab heute nach seiner Arbeitsschicht bis morgen früh vor Unterrichtsbeginn. Obwohl ich mit dieser Fahrt nicht einverstanden bin.«
Rivka erwiderte: »Man muss ihn dabei unterstützen, sich von ihnen zu lösen. Die Leute dort ziehen ihn zurück.«
David sagte: »Als wir ins Land kamen, ließen wir unsere Eltern einfach hinter uns. Wir schnitten ins lebendige Fleisch, und das war’s.«
Rivka bemerkte: »Dieser Junge ist vorzügliches menschliches Material: ruhig, fleißig, kameradschaftlich.«
David sagte: »Ich habe überhaupt eine sehr optimistische Einstellung, was die Sepharden betrifft. Wir müssen viel in sie investieren, aber die Investition wird sich auszahlen. In ein, zwei Generationen werden sie genauso sein wie wir.«
Nachdem David Dagan ihm erlaubt hatte, zu fahren,lief Mosche schnell in sein Zimmer, das er mit Tamir und mit Dror teilte, und am Ende der Zehnuhrpause hatte er seine kleine Umhängetasche schon gepackt. Er hatte Unterwäsche hineingelegt, Strümpfe, ein Hemd, Zahnbürste, Zahnpasta, Die Pest von Camus und auch sein altes schwarzes Barett, das er in seinem Schrankfach, links unter dem von Tamir, unter seinem Wäschestapel versteckt hatte.
Nach der Pause betrat David Dagan die Klasse und unterrichtete Geschichte. Er hielt einen Vortrag über die Französische Revolution und widmete sich dabei insbesondere der Marx’schen Sicht dieser Revolution, nach der sie ein Zeichen für Kommendes gewesen war, eine frühe Stufe der zwangsläufigen und unaufhaltsamen historischen Entwicklung hin zur klassenlosen Gesellschaft. Gideon, Lilach und Carmela meldeten sich und stellten David Dagan Fragen, die er ausführlich und wortgewaltig beantwortete. »Gebt mir nur einen Moment«, sagte er, »und lasst uns gemeinsam Ordnung in die Sache bringen.«
Mosche putzte seine Brillengläser und schrieb alles mit, denn er war ein fleißiger Schüler, doch er stellte keine Fragen. Einige Wochen zuvor hatte er in der Bibliothek ein wenig im Kapital gelesen, und es hatte ihnnicht angesprochen. Es war ihm so vorgekommen, als könnte hinter jedem Satz ein Ausrufezeichen stehen, und diese vielen Ausrufezeichen hatten ihn abgestoßen. Für Marx, so verstand es Mosche, waren die Gesetze, die die ökonomischen, gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen bestimmten, ebenso eindeutig und unerschütterlich wie Naturgesetze. Mosche hingegen empfand sogar der Unerschütterlichkeit von Naturgesetzen gegenüber einen gewissen Vorbehalt.
Als Lilach sagte, dass der Fortschritt Opfer rechtfertige und sogar erfordere, gab der Lehrer ihr recht und fügte hinzu, die Geschichte sei keine Gartenparty. Mosche verabscheute jedwedes Blutvergießen und ein wenig auch Gartenpartys. Nicht dass er je auf einer gewesen
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