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Unter Freunden

Unter Freunden

Titel: Unter Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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wäre, aber er sagte sich, dass er eigentlich auch zu keiner hätte gehen wollen. Er verbrachte seine freien Stunden damit, allein in der Bibliothek zu sitzen und zu lesen, während seine Mitschüler diese Zeit bei ihren Eltern verbrachten. Unter anderem las er einen ins Hebräische übersetzten Roman von David Howarth, We die alone . Das, was er las, ließ ihn mehr und mehr zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die meisten Menschen mehr Zuneigung brauchten, als zu finden war. Solche Überlegungen beschäftigten ihn während der Stundeüber die Französische Revolution. Nach der Pause hatten wir noch eine Stunde Geometrie und eine Stunde Theorie des Ackerbaus, danach stürmten wir alle in unsere Zimmer, um unsere Arbeitskleidung anzuziehen, bevor wir in den Speisesaal rasten.
    Zum Mittagessen gab es Spinatfrikadellen mit Kartoffelpüree, Essiggurken und Karottengemüse. Weil wir hungrig waren, verschlangen wir dazu auch Brot und baten um einen Nachschlag Kartoffelpüree. Auf jedem Tisch stand ein großer Blechkrug mit kaltem Wasser, und wegen der Hitze tranken wir jeder zwei, drei Gläser. Fliegen summten um unsere Köpfe, und über uns an der Decke des Speisesaals drehten sich die großen, staubbedeckten Ventilatoren. Zum Nachtisch gab es Kompott. Dann räumten wir das Geschirr von den Tischen und stellten es auf die Durchreiche zur Spülküche. Anschließend ging jeder von uns zu seinem Arbeitsplatz, Tamir in die Werkstatt, Dror aufs Viehfutterfeld, Carmela ins Babyhaus und Lilach in die Wäscherei.
    Mosche überquerte in seiner staubigen Arbeitskleidung und mit den nach Hühnermist stinkenden Stiefeln die Zypressenallee und lief an zwei leerstehenden Baracken und an einem Wellblechschuppen vorbei zum großen Hühnerstall. Schon von weitem roch er den Stall:den Gestank von Hühnerkot, Körnerstaub, Federn und stickiger Enge. Zeschka Honig, die Hühnerstallarbeiterin, wartete schon auf ihn. Sie saß auf einem kleinen Hocker und sortierte Eier nach Gewichtsklassen in Kartons, Klasse A und Klasse B. Mosche erkundigte sich, wie es Zeschka ging, und dann erzählte er ihr, dass er heute sofort nach der Arbeit den Vier-Uhr-Bus nehmen würde, um seinen Vater besuchen zu fahren. Zeschka erwiderte, dass sie sich seinerzeit einfach eines Morgens auf den Weg gemacht und von zu Hause geflohen war, um ins Land Israel einzuwandern und sich dem Kibbuz anzuschließen, deshalb hatte sie sich eigentlich nie wirklich von ihren Eltern verabschiedet. Die Nazis hatten sie in Litauen ermordet. »Wo ist sie, deine Familie?«, fragte Zeschka. »Leben sie in einem dieser Durchgangslager?«
    Mosche antwortete leise und ruhig, wie immer, wenn ihn jemand etwas fragte, dass seine Mutter gestorben sei und sein Vater krank, auch sein Onkel, deshalb würden er und seine Brüder in verschiedenen Kibbuzim aufgezogen. Während sie sich unterhielten, stellte er die Schubkarre unter die große Kippe des Hühnerfuttertanks und ließ sie bis an den Rand vollaufen. Er schob die Karre dann über den Betonweg zwischen zwei Käfigreihenund fing an, die Futterrinnen aufzufüllen. Unter den mit Hühnern vollgestopften Käfigen türmte sich Geflügelmist. Da und dort entdeckte er ein totes Huhn, zog es heraus und legte es sanft hinter sich auf den Betonboden. Nach dem Verteilen des Futters würde er noch einmal alle Reihen abgehen und die toten Hühner einsammeln. Ein dumpfes Rauschen erfüllte den Stall, als würden die Hühner, die immer zu zweit in einen engen Käfig gesperrt waren, leise, verloren und hartnäckig ein Klagelied vor sich hin singen. Nur manchmal brach aus einem Käfig ein schriller, lauter Angstschrei, als spürte eines der Hühner plötzlich, wie das alles enden würde. Und dabei war doch nie ein Huhn genau wie das andere und würde es auch nie sein. Für uns sehen sie alle gleich aus, doch in Wirklichkeit unterscheiden sie sich, genauso wie jeder Mensch sich vom anderen unterscheidet, seit der Erschaffung der Welt wurden noch nie zwei sich vollkommen gleichende Geschöpfe geboren. Insgeheim hatte Mosche bereits beschlossen, eines Tages Vegetarier zu werden, vielleicht sogar Rohköstler, doch er schob die Verwirklichung dieser Entscheidung hinaus, denn das wäre innerhalb der Gemeinschaft der Kibbuzjugend kein Leichtes. Auch schon ohne Vegetarier zu sein, musste er sich hier Tag und Nacht anstrengen,nicht allzu anders zu erscheinen. Sich beherrschen. Tun als ob. Er dachte an die Grausamkeit, die mit dem Verzehr von Fleisch verbunden war,

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