Unter Freunden
dachte an das Schicksal dieser Hühner, die dazu verdammt waren, ihr Leben hinter Gitterstäben in engen Eisenkäfigen hinzubringen, immer zu zweit zusammengepfercht, ohne dass sie je auch nur einen Schritt tun konnten, ihr ganzes Leben lang. Eines Tages, dachte Mosche, wird es auf der Welt eine Generation von Menschen geben, die uns zu Mördern erklären werden, sie werden nicht begreifen, wie wir das Fleisch von Mitgeschöpfen essen konnten, wie wir sie der Berührung der Erde und des Duftes des Grases berauben konnten, sie in automatischen Brutkästen ausbrüteten und in engen Käfigen aufzogen, sie bis zum Erbrechen mästeten, ihnen alle Eier vor dem Brüten raubten und ihnen am Ende die Kehle durchschnitten, die Federn ausrupften und die Gliedmaßen abrissen, nur um uns selbst zu mästen und uns genüsslich das Fett von den Lippen zu lecken. Schon seit einigen Monaten spielte Mosche mit dem Gedanken, einen der Käfige zu öffnen und heimlich ein Huhn herauszuholen, nur eines, und es unter seinem Hemd an den wachsamen Augen Zeschkas und Schragas vorbei hinauszuschmuggeln und es außerhalb des Kibbuz freizulassen. Aber wassollte ein sich selbst überlassenes Huhn auf den Feldern anfangen? In der Nacht würden die Schakale kommen und es in Stücke reißen.
Auf einmal erfüllte ihn Ekel vor sich selbst, so wie oft und aus den verschiedensten Gründen. Und danach empfand er Ekel vor seinem Ekel und verspottete sich selbst als Schöngeist, ein Ausdruck, den der Lehrer David Dagan manchmal für diejenigen benutzte, die vor der unvermeidlichen Grausamkeit der Revolution zurückschreckten. Mosche achtete David Dagan, der ein Mann mit Prinzipien und festen Standpunkten war und ihn und alle anderen Schüler unter seine väterlichen Fittiche nahm. David Dagan war es gewesen, der ihn hier im Kibbuz Jikhat freundlich aufgenommen und mit sanftem Nachdruck dazu gebracht hatte, sich schnell zu integrieren und Teil der Gemeinschaft zu werden. Ihm verdankte er, dass er am Kunstkreis und am Diskussionskreis zu aktuellen Problemen teilnehmen konnte, und David Dagan war es auch gewesen, der ihn mit Vehemenz vor dem Spott in Schutz genommen hatte, der ihm in den ersten Wochen entgegengeschlagen war. Mosche wusste wie alle anderen im Kibbuz Jikhat, dass David jetzt mit einem sehr jungen Mädchen zusammenlebte, mit Edna Ascherow, der Tochter vonNachum, dem Elektriker. In Davids Leben hatte es viele Frauen gegeben. Mosche wunderte sich darüber, doch er sagte sich, David Dagan sei eben kein gewöhnlicher Mensch wie wir alle, sondern ein Freigeist. Er verurteilte David nicht, zum einen, weil er es nicht mochte, andere Menschen zu verurteilen, und zum anderen, weil er seinem Lehrer dankbar war. Dennoch war in ihm eine verhaltene Verwunderung. Mehr als einmal versetzte er sich in Gedanken an David Dagans Stelle, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, die herrische Lässigkeit des Lehrers Frauen und jungen Mädchen gegenüber nachzuempfinden. Keine gesellschaftliche Revolution ist gerecht, dachte er. Auch die gewaltsame, endgültige Revolution, von der David gesprochen hatte, würde nicht Gleichheit schaffen können zwischen Menschen wie David, dem die Mädchen ohne jede Bemühung seinerseits nachliefen, und jemandem wie ihm selbst, der nicht einmal wagte, an so etwas auch nur zu denken.
Mosche Jaschar träumte manchmal von dem in sich gekehrten Lächeln eines Mädchens aus seiner Klasse, Carmela Nevo, von ihren Fingern, die der Flöte herzergreifende traurige Melodien entlockten, aber nie würde er es wagen, sich ihr zu nähern, nicht mit Worten und fast nicht mit Blicken. Sie saß in der Klasse zweiReihen vor ihm, und wenn sie sich über ihr Heft beugte, konnte er von weitem ihren schmalen Nacken und den zarten Flaum am Haaransatz sehen. Einmal hatte Carmela zwischen einer Lampe und der Wand gestanden und sich mit einem anderen Mädchen unterhalten, und er hatte im Vorübergehen mit den Fingerspitzen ihren Schatten gestreichelt. Danach hatte er die halbe Nacht wach gelegen und nicht einschlafen können.
Zeschka sagte: »Wenn du das Thermometer im Brutstall und das Wasser in der Tränke kontrolliert, die Küken gefüttert und alle Eierkartons in den Kühlschrank geräumt hast, kannst du gehen. Ich werde den Tagesbericht für dich ausfüllen. Ich gebe dir heute eine Viertelstunde eher frei, damit du noch duschen und dich umziehen kannst, bevor du den Vier-Uhr-Bus nimmst.«
Mosche sammelte die toten Hühner zwischen den Käfigreihen
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