Unter Freunden
war der Elektriker des Kibbuz Jikhat, ein Witwer um die fünfzig. Edna war nun sein einziges Kind, nachdem ihr älterer Bruder, sein Sohn Jischaj, vor einigen Jahren bei einer Vergeltungsaktion umgekommen war. Ein willensstarkes junges Mädchen, mit schwarzen Augen und olivfarbener Haut, im Frühling war sie siebzehn geworden, sie ging in die letzte Klasse der Kibbuzschule. Sie kam immer gegen Abend zu ihm, von ihrem Zimmer im Schülerwohnheim, das sie mit zwei anderen Mädchen teilte, dann saß sie ihm gegenüber im Sessel, die Arme um die Schultern geschlungen, als wäre ihr kalt. Sogar im Sommer schlang sie die Arme um die Schultern. Fast jeden Tag war sie etwa eine Stunde bei ihm. Er bereitete für sie beide Kaffee und einen Teller mit geschältem und in Stücke geschnittenem Obst. Sie sprach mit ihrer leisen Stimme über die Radionachrichten oder erzählte ihm von der Schule, dann verabschiedete sie sich, um den Abend mit ihren Freundenund Freundinnen zu verbringen oder vielleicht auch ohne sie. Nachts schliefen sie und die anderen Jugendlichen ihres Alters im Schülerwohnheim. Nachum wusste nicht, wie und mit wem sie ihre freie Zeit verbrachte, er fragte sie nicht danach, und sie vermied es, von sich aus etwas zu erzählen. Er hatte den Eindruck, dass sich die Jungen noch nicht für sie interessierten, er war sich nicht sicher, doch er forschte nicht weiter nach. Einmal hatte er etwas über eine flüchtige Beziehung zwischen ihr und Dubi, dem Bademeister, gehört, dann war das Gerücht wieder verflogen. Er und seine Tochter sprachen nie von sich selbst, abgesehen von äußerlichen Dingen. Edna sagte zum Beispiel: »Du musst zur Sanitätsstation gehen, dein Husten gefällt mir nicht.«
Und Nachum sagte: »Mal sehen. Vielleicht in der nächsten Woche. Diese Woche bekommen wir einen neuen Generator für den Brutstall.«
Manchmal sprachen sie über Musik, die sie beide liebten, und manchmal sprachen sie überhaupt nicht, sondern legten eine Platte auf den alten Plattenspieler und lauschten beide der Musik von Schubert. Über den Tod von Ednas Mutter und den Tod ihres Bruders sprachen sie nie. Auch nicht über ihre Kindheitserinnerungen oder ihre Zukunftspläne.
Beide waren sie stillschweigend übereingekommen, Gefühle nicht zu berühren und auch einander nicht zu berühren. Selbst die leichteste Berührung vermieden sie, nicht einmal eine Hand auf die Schulter oder auf den Arm des anderen.
Beim Gehen hatte Edna von der Tür aus gesagt: »Auf Wiedersehen, Vater. Vergiss nicht, zur Sanitätsstation zu gehen. Ich komme morgen oder übermorgen wieder zu dir.« Und Nachum hatte geantwortet: »Ja. Komm. Und pass auf dich auf. Auf Wiedersehen.«
In wenigen Monaten würde Edna mit all ihren Klassenkameraden zur Armee einberufen werden, und man hatte ihr schon angekündigt, sie dem Nachrichtendienst zuzuteilen, weil sie aus eigenem Antrieb Arabisch gelernt hatte.
Nun aber, einige Tage vor dem ersten Regen, hatte der Kibbuz verwundert zur Kenntnis genommen, dass Edna Ascherow ihre Kleidung und ihre anderen Sachen zusammengepackt hatte und aus ihrem Zimmer im Schülerwohnheim zu dem Lehrer David Dagan gezogen war, der so alt war wie ihr Vater. David Dagan war einer der Gründer und der Leitfiguren des Kibbuz, ein beredter Mann mit festem, stämmigem Körper, breiten Schultern und einem kurzen, sehnigen Hals. Sein dichter, sorgfältig gestutzter Schnauzbart zeigte schon graue Haare. Für gewöhnlich ergriff er in Diskussionen mit einer gewissen Ironie, mit Entschiedenheit und mit ruhiger Bassstimme das Wort. Wir akzeptierten fast alle seine Autorität in ideologischen Fragen und auch in Angelegenheiten des Alltagslebens, weil er über eine Scharfsinnigkeit und Überzeugungskraft verfügte, der man nicht widerstehen konnte. Er unterbrach einen mitten im Satz, legte einem die Hand auf die Schulter und sagte freundlich und bestimmt: »Komm, gib mir nur einen Moment, lass uns gemeinsam Ordnung in die Sache bringen.« Er war ein orthodoxer Marxist, hörte aber mit großer Hingabe synagogale Gesänge. Über all die Jahre war David Dagan der Geschichtslehrer der Kibbuzschule. Er wechselte oft seine Liebschaften und hatte mit vier verschiedenen Frauen aus unserem Kibbuz und aus zwei benachbarten Kibbuzim sechs Kinder in die Welt gesetzt.
David Dagan war um die fünfzig, und Edna, die im Jahr zuvor seine Schülerin gewesen war, war gerade einmal siebzehn. Kein Wunder, dass das Getratsche an Roni Schindlins Tisch im Speisesaal
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