Unter Freunden
und Jischaj war der siebte oder achte auf der Liste. Nachum erinnerte sich daran, wie Jischaj als kleiner Junge die Anfangsbuchstaben von Wörtern nicht richtig aussprechen konnte, statt »traurig« sagte er »raurig« oder »nie« statt »Knie«. Er streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen über die kalten Kupferbuchstaben. Dann wandte er sich ab und ging weiter, und er wusste noch immer nicht, was er sagen sollte, fühlte sich aber plötzlich bedrückt, denn seit seiner Jugend hatte David Dagan einen festen Platz in seinem Herzen, und auch nach dem, was geschehen war, fühlte er keinen Zorn, sondern Verwirrung, vor allem aber Enttäuschung und Traurigkeit.
Während er sich von dem Denkmal entfernte, fing es plötzlich wieder an zu regnen, nicht in Strömen, sondern in hartnäckigen feinen Fäden. Dieser Nieselregen nässte seine Wangen und seine Stirn und beschlug seine Brillengläser, er schob das mit Cellophan umwickelte Buch tief unter seinen abgetragenen Studentenmantel und drückte es fest an seine Brust. Deshalb sah es aus, als griffe er sich ans Herz, weil er sich schlecht fühlte. Doch niemand begegnete ihm auf dem Weg, niemand sah, wie seine Hand gegen den Mantel drückte.
Vielleicht wird diese widersinnige Beziehung zwischen Edna und David Dagan in einigen Tagen von selbst aufhören? Vielleicht wird sie zur Besinnung kommen und in ihr früheres Leben zurückkehren? Oder David wird ihrer bald überdrüssig werden, so wie es bei all seinen Liebschaften nach kurzer Zeit der Fall gewesen war? Sie war doch noch ein junges Mädchen, das bislang keinen Freund gehabt hatte, außer, wie es hieß, so eine Geschichte von zwei, drei Wochen mit Dubi, dem Bademeister, während David Dagan bei uns als einer bekannt war, der ständig seine Frauen und Liebschaften wechselte.
Nachum Ascherow erinnerte sich an den Beginn seiner Freundschaft mit David Dagan: In den ersten Jahren nach der Kibbuzgründung waren sie so arm, dass sie in Zelten lebten, die sie von der Jewish Agency bekommen hatten. Nur die fünf Babys waren in der einzigen Baracke untergebracht. In dem jungen Kibbuz entbrannte ein ideologischer Streit darüber, ob nur die Eltern oder alle Kibbuzmitglieder für die Nachtwache in der Babybaracke eingeteilt werden sollten. Es war im Grunde eine Auseinandersetzung über die Frage, ob die Babys prinzipiell ihren Eltern oder der Kibbuzgemeinschaft gehörten. David Dagan kämpfte für den zweiten Standpunkt, während Nachum Ascherow sich für die natürlichen Rechte der Eltern einsetzte. Drei Abende lang, bis ein Uhr nachts, diskutierte die Kibbuzgemeinschaft, ob sie darüber in offener oder geheimer Abstimmung entscheiden sollte. David Dagan war für die offene Abstimmung, Nachum Ascherow für die geheime. Schließlich kamen sie überein, einen Ausschuss zu bilden, bestehend aus David, Nachum und drei noch kinderlosen Frauen. Dieser Ausschuss beschloss mit der Mehrheit der Stimmen, dass die Babys dem Kibbuz gehörten, aber auch, dass zur Nachtwache in der Babybaracke zuallererst die Eltern herangezogen werden sollten. Nachum bewunderte insgeheim David Dagans entschiedenen und konsequenten ideologischen Standpunkt, auch wenn er sich ihm widersetzte. David hingegen schätzte Nachums Feingefühl und Geduld und ihn beeindruckte, wie Nachum es mit seiner ruhigen Hartnäckigkeit schaffte, ihn eigentlich zu bezwingen. Als Jischaj beim Angriff auf Deir A-Nashaf umgekommen war, hatte David Dagan die ersten Nächte bei Nachum geschlafen. Seit damals hatte ihre Freundschaft über all die Jahre Bestand. Sie trafen sich ab und zu am frühen Abend, spielten Schach und sprachen über die Grundprinzipien des Kibbuzlebens, wie sie waren und wie sie sein sollten.
David Dagan wohnte in der äußersten Häuserreihe,direkt vor der Mauer aus Zypressen, am Rand der Siedlung 3. Er war in diese Wohnung gezogen, nachdem er seine vierte Ehefrau verlassen hatte, und alle wussten, dass er sie wegen Siwa verlassen hatte, einer jungen Lehrerin aus der Stadt, die dreimal in der Woche bei uns übernachtete. Vor kurzer Zeit hatte er sein Verhältnis mit Siwa beendet, weil Edna ihre Sachen gepackt hatte und aus dem Schülerwohnheim zu ihm in seine neue Wohnung gezogen war.
Ein anderer Mann an meiner Stelle, dachte Nachum Ascherow, wäre wahrscheinlich wütend in die Wohnung gestürmt, hätte David links und rechts geohrfeigt, dann seine Tochter gepackt und sie mit Gewalt nach Hause gezerrt. Oder, im Gegenteil, wäre schweigend
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