Unter Freunden
immer höhere Wellen schlug. Von Abischag von Schunem war die Rede, von Lolita, von Blaubart. Joske M. sagte, diese Schande erschüttere das Fundament der Kibbuzschule, wie könne das sein, ein Lehrer und eine junge Schülerin, man müsse dringlich eine Sitzung des Erziehungsausschusses einberufen. Joschka widersprach ihm: »Mit der Liebe lässt sich nicht streiten. Haben wir hier nicht von jeher die freie Liebe auf unsere Fahnen geschrieben?« Und Rivka R. sagte: »Wie konnte sie ihrem Vater so etwas antun, nach allem, was er schon verloren hat. Nachum tut einem wirklich von Herzen leid, er wird das nicht überstehen.«
»Die ganze junge Generation will auf einmal an der Universität studieren«, sagte David Dagan mit seinem tiefen Bass an seinem Tisch im Speisesaal, »keiner will mehr auf den Feldern und in den Obstplantagen arbeiten.« Und in strengem Ton fügte er hinzu: »Wir müssen in Sachen Studium Grenzen setzen. Ist jemand anderer Meinung?«
Niemand stritt mit ihm, aber alle im Kibbuz empfanden Mitleid für Nachum Ascherow. Hinter Ednas und David Dagans Rücken sagte man: Das wird kein gutes Ende nehmen. Und man sagte: Er ist ganz und gar nicht in Ordnung. Er ist noch nie in Ordnung gewesen, wenn es um Frauen ging. Und über sie muss man sich einfach wundern.
Nachum schwieg. Es schien ihm, dass jeder, dem erim Kibbuz begegnete, ihn verwundert oder spöttisch anschaute: Hat man denn nicht deine Tochter verführt? Wie kommt es, dass du dazu schweigst? Vergeblich versuchte er, seine fortschrittlichen Ansichten in Sachen Liebe und Freiheit zu Hilfe zu rufen. Kummer, Verlegenheit und Scham erfüllten ihn. Jeden Morgen stand er auf und ging in die Elektrowerkstatt. Er reparierte Lampen und Kocher, ersetzte alte Stecker durch neue, wechselte defekte Geräteteile aus und zog mit einer Leiter auf der Schulter und einem Werkzeugkasten in der Hand los, um eine neue Stromleitung im Kindergarten zu legen. Morgens, mittags und abends erschien er im Speisesaal, stand schweigend in der Schlange vor dem Ausgabetresen, belud sich das Tablett und setzte sich in eine Ecke, wo er in tiefem Schweigen seine Mahlzeit zu sich nahm. Er saß immer in derselben Ecke. Die Leute sprachen behutsam mit ihm, so wie man mit einem Schwerkranken spricht, ohne seinen Zustand auch nur mit einer Andeutung zu erwähnen, und er antwortete ihnen knapp, in gleichbleibendem Ton, mit leiser, etwas heiserer Stimme. Und in seinem Herzen sagte er sich: Noch heute werde ich zu ihr gehen und mit ihr sprechen. Und auch mit ihm. Sie ist doch noch ein Kind.
Aber Tag um Tag ging vorbei. Tag um Tag saß Nachum Ascherow in der Elektrowerkstatt, vornübergebeugt, die Brille auf der Nase nach unten gerutscht, und kümmerte sich um die Elektrogeräte, die ihm die anderen zur Reparatur brachten: Wasserkocher, Radioapparate, Ventilatoren. Er sagte sich wieder und wieder: Heute nach der Arbeit gehe ich bestimmt dort hin. Ich werde hingehen und mit beiden sprechen. Ich werde eintreten und nur einen oder zwei Sätze sagen, dann werde ich Edna fest am Arm packen und sie nach Hause zerren. Nicht zu ihrem Zimmer im Schülerwohnheim, sondern nach Hause zu mir. Aber welche Worte sollte er wählen? Was sollte er dort als Erstes sagen, wie sollte er beginnen? Sollte er kochend vor Wut hineinstürzen oder sollte er sich beherrschen und versuchen, an Vernunft und Pflichtgefühl zu appellieren? Vergeblich suchte er in seinem Inneren Zorn und Vorwürfe, er fand nur Schmerz und Enttäuschung. Zwei Söhne von David Dagan waren doch ein paar Jahre älter als Edna und hatten beide ihren Militärdienst bereits hinter sich. Vielleicht sollte er, statt dorthin zu gehen, mit einem der Söhne sprechen? Aber was konnte er ihm sagen?
Von klein auf hatte Edna Nachum nähergestanden als ihrer Mutter. Diese Nähe hatte sich kaum in Worten ausgedrückt, vielmehr in einer Art tiefem gegenseitigenVerständnis, das bei Nachum dazu geführt hatte, dass er immer ganz genau wusste, was er sie fragen konnte und was nicht, wann er ihr besser nachgab und wann er sich durchzusetzen hatte. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Edna es übernommen, jeden Montag die Wäsche ihres Vaters in die Wäscherei zu tragen und sie ihm jeden Freitag, gewaschen und gebügelt, wieder zurückzubringen und ihm manchmal auch einen Knopf anzunähen. Seit dem Tod ihres Bruders hatte sie ihn fast jeden Tag gegen Abend in seiner Wohnung besucht. Er hatte die Vorhänge zugezogen und Kaffee gekocht, und sie saß eine Stunde oder
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