Unter goldenen Schwingen
erlitten hatte. Ich hatte keine äußeren Verletzungen gehabt, doch man hatte mich für eine gründliche Untersuchung hergebracht. Dann folgte eine Auflistung der Untersuchungen, die der aufnehmende Arzt angeordnet hatte.
Der zweite Bericht, den die Schwester mir gegeben hatte, war der Bericht des Notarztes. Ich las das Papier gespannt durch. Darin stand, dass der Krankenwagen um 18.12 Uhr eingetroffen war, und dass man mich neben dem Autowrack auf der Straße liegend vorgefunden hatte. Ich hatte auf die Ansprache der Sanitäter reagiert, und man hatte keine äußeren Verletzungen festgestellt. Dann wurden einige medizinische Maßnahmen angegeben, die für den Transport durchgeführt worden waren.
Ich ließ das Papier enttäuscht sinken. Der Bericht enthielt keine Angaben über den Unfall selbst, ganz zu schweigen von der Information, auf die ich gehofft hatte. Nachdenklich lehnte ich mich zurück in die Kissen.
Am nächsten Morgen wurde ich durch Schwester Birgit, die immer noch Dienst hatte, unsanft aus dem Schlaf gerissen. Gerädert blinzelte ich in das grelle Neonlicht. Ich hatte stundenlang grübelnd wach gelegen und war erst am frühen Morgen eingeschlafen.
Die Schwester griff nach den Berichten, die ich auf den Nachttisch gelegt hatte.
»Ihre Entlassungspapiere werden gegen neun Uhr fertig sein«, sagte sie. »Bitte geben Sie den Schlüssel zu Ihrem Schrank bei meiner Kollegin ab, bevor Sie gehen.«
Sie war bereits an der Tür, als ich endlich meine Stimme fand. »Warten Sie! Wen muss ich fragen, wenn ich Informationen über den Unfall haben möchte? Es steht nichts in diesen Berichten über … Zeugen, oder …«
»Natürlich nicht«, erwiderte die Schwester irritiert. »Das sind ja auch medizinische Berichte. Was Sie brauchen, ist der Unfallbericht.«
»Woher bekomme ich den?«
Schwester Birgit zog die Brauen hoch. »Bei der Polizei?«
Von der Gefängnisinsassin zur Idiotin , dachte ich. Großartig.
»Danke«, murmelte ich zähneknirschend, doch die Schwester hatte das Zimmer bereits verlassen.
Missmutig stand ich auf und holte meine Sachen aus dem Schrank, um mich anzuziehen. Während ich darüber nachgrübelte, wie ich an diesen Unfallbericht herankommen konnte, schlüpfte ich mit einem Bein in meine Jeans – und erstarrte.
Was ich in der Hand hatte, war nicht meine Jeans.
Es war nichts als zerfetzter Stoff.
Die Jeans sah aus, als wäre sie von einer Granate zerrissen worden. Ungläubig griff ich nach den Stofffetzen, und setzte die Stücke zusammen, so, wie sie ursprünglich gewesen waren. Dann fuhr ich mit den Fingern an den Rissen entlang.
Meine Beine hätten eine einzige rohe Fleischmasse sein müssen.
Wie ferngesteuert stand ich auf und nahm meine Jacke aus dem Schrank – oder das, was von ihr übrig war. Ich schlüpfte in die Stofffetzen und starrte fassungslos mein Spiegelbild an.
Auch die Jacke sah aus, als wäre eine Bombe darin explodiert.
Plötzlich verstand ich, warum die Ärzte und Rettungssanitäter darauf bestanden hatten, mich so gründlich zu untersuchen. Diese Kleidung machte nicht den Eindruck, als wäre der Mensch darin in einem Stück geblieben.
Mit einer mechanischen Bewegung griff ich nach meinem Telefon. Ich hatte vier verpasste Anrufe und zwei Textnachrichten, vermutlich alle von Anne. Darum würde ich mich später kümmern. Ich suchte die Nummer, die ich jetzt brauchte, und drückte die Wähltaste.
»Ludwig?« Meine Stimme klang seltsam fremd. »Ich brauche wohl doch etwas von zu Hause. Ein paar Sachen zum Anziehen.«
Während wir nach Hause fuhren, blickte ich gedankenversunken aus dem Fenster. Ich trug die Kleidung, die Ludwig mir mitgebracht hatte, und auf der Rückbank lag ein Müllsack, den ich Schwester Birgit abgebettelt hatte, mit meiner Stofffetzensammlung. Ein Gefühl sagte mir, dass es keine weise Entscheidung gewesen wäre, meinem Vater von der zerstörten Kleidung zu erzählen – oder überhaupt irgendjemandem.
Ludwig schwieg während der gesamten Autofahrt und warf alle paar Minuten einen Blick auf die Uhr. Gegen halb neun hatte eine junge Ärztin mich nochmals untersucht, was meine Entlassung verzögert hatte. Bis die Ärztin mir dann den Arztbrief und Ludwig die Rechnung in die Hand gedrückt und uns zum Entlassungsmanagement geschickt hatte, waren zwei Stunden vergangen. Es war fast Mittag als wir endlich das Krankenhaus verließen.
Ich hatte genügend Zeit gehabt um Anne zu texten, und mich dafür zu entschuldigen, dass ich nicht
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