Unter goldenen Schwingen
murmelte ich.
Ludwig legte sich seinen Kaschmirmantel über den Arm. »Ruh dich aus. Ich werde noch einmal mit dem Arzt sprechen, um sicherzugehen, dass sie bei dir alle wichtigen Untersuchungen durchgeführt haben. Wir sehen uns morgen.« Er ging mit unentschlossenen Schritten zur Tür und sah mich noch einmal besorgt an. Dann verließ er das Krankenzimmer und ich blieb allein zurück.
Nachdenklich starrte ich an die Wand. Körperlich fühlte ich mich vollkommen in Ordnung. Doch etwas war anders als sonst, aber ich war mir nicht sicher, war es war. Ich verdrängte das unklare Gefühl und wandte mich einer viel wichtigeren Frage zu.
Was in aller Welt war bei dem Unfall geschehen?
Ich erinnerte mich nur vernebelt und bruchstückhaft daran, dass ich wie verrückt über die Landstraße gerast war, dass ich die Kontrolle über den Wagen verloren hatte und gegen die Mauer geprallt sein musste.
Doch alles, was danach passiert war, war erstaunlich klar. Ich erinnerte mich an jedes Detail meiner Rettung. An das Gesicht des jungen Mannes, an seine braunen Augen, an seine ruhige Stimme. Daran, dass er mich aus dem Wrack gehoben hatte, und auf der Straße bei mir geblieben war, bis die Sanitäter eingetroffen waren. Ich erinnerte mich genau an das Gefühl von Geborgenheit, das ich in seiner Nähe empfunden hatte.
Und plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Ich wusste jetzt, was sich verändert hatte.
Die elenden Gefühle, die mich sonst immer wie ein Schraubstock erdrückten, waren verschwunden.
Ich setzte mich kerzengerade auf. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich nicht verfolgt oder bedrängt, und zum ersten Mal war mein Inneres kein dunkler, furchterregender Ort. Ich dachte an den Blick des jungen Mannes, der mich gerettet hatte, und fühlte etwas, das ich nicht sofort benennen konnte.
Es war ein Gefühl, das ich lange nicht mehr empfunden hatte. Und plötzlich begriff ich.
Was ich fühlte, war Vertrauen.
Auf wackligen Beinen tappte ich aus dem Zimmer. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick in den Spiegel. Ich war noch blasser als sonst, und unter meinen Augen lagen dunkle Ringe. Meine langen Haare waren wirr und noch feucht – vom Regen, wie ich vermutete – und das Krankenhausnachthemd, das ich trug, schlackerte an meinem Körper. Ich sah wesentlich zerbrechlicher aus, als ich mich im Augenblick fühlte. Ein wenig schwindlig, doch mir tat nichts weh, und der Arzt hatte Recht: Ich hatte keinen Kratzer.
Ich spähte hinaus auf den Gang. Die Lichter waren gedimmt und kein Mensch war zu sehen. Das war mir nur recht. Ich stützte mich an der Wand ab, bis ich das Schwesternzimmer erreicht hatte. Die Nachtschwester – es war dieselbe, die mit dem Arzt in meinem Zimmer gewesen war – saß am Schreibtisch und blickte auf, als ich leise klopfte.
»Ja bitte?«
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht etwas wissen … über meinen Unfall, meine ich.«
Die Nachtschwester seufzte. »Sie sollten sich hinlegen und ausruhen.«
»Bitte. Es ist wichtig für mich.«
Die Frau blickte mich mit jenem Krankenschwesternausdruck an, der mir das Gefühl gab, als wäre ich eine Gefängnisinsassin. »Fragen Sie morgen früh den Arzt. Er wird Ihnen …«
»Aber ich werde morgen früh schon entlassen«, unterbrach ich sie. »Bitte, Schwester …« Ich spähte auf das Namenschild. » … Birgit. Es muss doch einen Bericht geben. Bitte sehen Sie nach.«
Im Laufe der monatelangen Krankenhausaufenthalte meiner Mutter hatte ich Übung darin bekommen, Informationen aus Krankenschwestern herauszulocken. Schwester Birgit schnaufte genervt, stand aber dennoch auf und holte eine Akte aus einem Schrank. Sie schlug sie auf und durchsuchte die Unterlagen.
»Hier ist Ihr Aufnahmebericht. Und das ist der Bericht des Notarztes.« Sie reichte mir mehrere Seiten.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich …?« Ich deutete in die Richtung meines Krankenzimmers.
»Solange Sie die Berichte morgen früh wieder bei mir abgeben«, erwiderte sie und wandte sich wieder ihrem Computer zu. »Ihre Krankenakte muss vollständig sein, wenn Sie entlassen werden.«
Ich nickte rasch und wankte den Gang hinunter, ehe die Schwester es sich anders überlegen konnte.
Allein in meinem Zimmer, setzte ich mich auf mein Bett und überflog den Aufnahmebericht, bis ich den Teil über meine Einlieferung fand.
Der Bericht sagte aus, dass ich um 18.43 Uhr vom Rettungswagen gebracht worden war, nachdem ich einen Autounfall
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