Unter goldenen Schwingen
auf ein Regal zu.
Ich trottete ihr hinterher und beobachtete staunend, wie sie ohne zu überlegen zwei Bücher aus dem Regal zog, dann weiter von Regal zu Regal ging und mit sicherem Griff immer wieder einige Bücher herauszog, die sie mir in die Hand drückte, bis der Bücherstapel in meinen Armen so hoch war, dass ich kaum noch darüber sehen konnte.
»Das sollte für den Anfang reichen.« Frau Seemann deutete Richtung Studienbereich. »Wo immer du einen Platz findest. Wenn du Hilfe brauchst, kann Herbert mich im Büro erreichen.« Sie nickte mir zu und wandte sich zum Gehen.
»Danke!«, rief ich ihr nach, doch die Bibliothekarin zeigte auf ein Schild an der Wand – ›Ruhe bitte‹ – und ich verstummte und zog den Kopf ein.
Ich balancierte den Bücherstapel zu einem freien Platz an einem der langen Tische. Dann begann ich, die Bücher durchzusehen, und stellte fest, dass es sich um Fachliteratur zu verschiedenen Kulturen handelte. Ich erkannte rasch, dass Melinda Seemann eine ausgezeichnete Auswahl für mich getroffen hatte. Die Bücher umspannten Jahrtausende der Geschichte, von längst vergangenen Hochkulturen bis zur Neuzeit, quer über den ganzen Globus.
Ich suchte die Kapitel über die jeweiligen Glaubensvorstellungen heraus und begann zu lesen. Ich staunte darüber, dass die Vorstellung von Engeln in den meisten Religionen und Glaubensrichtungen auf der ganzen Welt eine lange Tradition hatte, und darüber, dass die Quellen, die von engelsartigen Wesen sprachen, so alt zu sein schienen wie die Menschheit.
Ich las über die Vorstellung von Wesen mit Flügeln im alten Persien, in Babylon und anderen alten Kulturen Mesopotamiens, im alten Ägypten, im antiken Griechenland und im Römischen Reich. Die erstaunlichen Ähnlichkeiten der bildlichen Darstellungen verblüfften mich, zumal sie sich über unterschiedliche Kulturen und Tausende von Jahren erstreckten …
»Entschuldigung.«
Ich schreckte auf, als jemand mich an der Schulter berührte. Hinter mir stand Herbert, der junge Mann vom Schalter.
»Du musst jetzt leider gehen. Wir haben schon geschlossen.«
Ich sah mich verwirrt um. Ich saß allein an dem langen Tisch, als Einzige in dem gesamten Studienbereich. Alle Lampen, bis auf die an meinem Tisch, waren abgeschaltet worden.
»Wie spät ist es?« Ich streckte meinen steifen Rücken.
»Kurz vor 22 Uhr.«
» Was? « Ich starrte ihn entgeistert an.
»Normalerweise schließen wir um sieben«, sagte Herbert gedehnt und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Einige der Uniprofessoren halten hier im Konferenzraum eine Besprechung zu einem Forschungsprojekt ab, an dem auch Frau Doktor Seemann teilnimmt. Sie hat dir eine Ausnahmeerlaubnis erteilt, länger zu bleiben. Aber die Besprechung ist gerade zu Ende gegangen.«
»Ich verstehe«, murmelte ich, schockiert darüber, dass ich so vertieft in die Bücher gewesen war, dass ich die Zeit vergessen hatte. »Soll ich die Bücher wegräumen?«, fragte ich unsicher.
»Leg sie einfach auf eines der Pulte neben den Regalen.«
»Ich will mir nur schnell die Titel notieren …«
Herbert blies genervt die Luft aus den Backen, während ich in meiner Tasche nach einem Stift suchte.
»Danke, Herbert«, erklang plötzlich eine Stimme hinter uns. »Du kannst jetzt gehen.«
Das ließ er sich nicht zweimal sagen und verschwand, als Melinda Seemann an meine Seite trat. Ihr Blick wanderte über die Bücher, die ich über den halben Tisch ausgebreitet hatte. »Wie kommst du voran?«
»Sehr gut. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Und dafür, dass Sie mich länger haben hier bleiben lassen. Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist.«
»Ja, das ist mir aufgefallen.«
»Darf ich morgen wiederkommen?«
Frau Seemann lächelte. »So fasziniert von dem Thema?«
Ich nickte. »Ich hätte nicht gedacht, dass es darüber so viel zu lesen gibt! Wussten Sie, dass fast alle Kulturen der Welt an Engel glauben?«
Ein seltsamer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. »Davon habe ich gehört«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Du kannst die Bücher am Schalter für morgen zurücklegen, wenn du willst.«
Sie half mir, die Bücher nach vorne zu tragen, und in einem Regal hinter dem Schalter zu verstauen.
»Vielen Dank nochmals«, sagte ich, als ich mich verabschiedete.
»Pass auf dich auf. Vielleicht wäre es klüger gewesen, das Auto zu nehmen.«
Verwundert über diese Aussage, verließ ich die Bibliothek. Während ich die Treppen hinunterging und die leere
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