Unter goldenen Schwingen
keine.
Zögernd blickte ich zwischen dem Studienbereich und dem Gang Richtung Konferenzraum hin und her. Sollte ich allein im Licht bleiben, oder in die Dunkelheit gehen und Hilfe holen?
Mehrere flüsternde Stimmen im Gang direkt neben mir nahmen mir die Entscheidung augenblicklich ab. Ich schoss los.
Nichts als Schwärze lag vor mir und ich konnte in den Regalreihen rechts und links nichts erkennen. Ich näherte mich der ersten Kreuzung. Der Verwesungsgeruch wurde stärker. Ich blieb schaudernd stehen, als ich ein deutliches Flüstern vernahm.
Mir drehte sich der Magen um. Jemand stand direkt an der Ecke.
Ich wagte nicht, weiterzugehen. Ich versuchte, zwischen den Büchern in dem Regal hindurchzusehen, und ich glaubte, eine Gestalt dahinter zu erkennen. Ich stand da, meine schweißnassen Hände zu Fäusten geballt.
Ich schluckte trocken.
Die Tür zum Konferenzraum lag nur am Ende des Gangs, und doch war sie unerreichbar für mich. Zu viele dunkle Regalreihen öffneten sich zum Gang hin und darin bewegten sich flüsternde Stimmen auf mich zu.
Ich hatte keine Wahl, ich musste weiter – doch ich war gelähmt vor Grauen. Ich wagte nicht, den ersten Schritt zu setzen. Plötzlich bewegte sich etwas hinter dem Regal direkt an meiner Ecke – und schlurfte aus der Dunkelheit hervor.
Ich stolperte rückwärts. Entsetzt starrte ich auf die Kreatur, die flüsternd auf mich zu schlich.
Sie war menschenähnlich, doch so hässlich, dass es kein Mensch sein konnte. Sie war abgemagert bis auf die Knochen, die Haut im Gesicht war eingesunken und so stark verwest, dass sie ledrigen Fetzen ähnelte. Das widerliche Geschöpf fixierte mich mit Augen, die wie schwarze Höhlen aussahen, und schleppte sich humpelnd auf mich zu. Dabei flüsterte es unentwegt.
Ich konnte nicht verstehen, was es sagte. Der süßliche Verwesungsgestank schlug mir entgegen und gelähmt vor Entsetzen starrte ich direkt in die schwarzen, hohlen Augen.
Die Kreatur zögerte einen Moment, als sich unsere Blicke trafen. Dann wich sie plötzlich zurück.
»Hilfe … bitte …«, krächzte ich.
Ich machte einen zittrigen Schritt rückwärts – und stieß mit dem Rücken gegen etwas Großes. Entsetzt wirbelte ich herum und erwartete, einer weiteren grässlichen Kreatur direkt gegenüberzustehen.
Ich erstarrte.
Hinter mir stand, mit blitzenden Augen und flammendem Zorn im Gesicht, der blonde Fremde.
Ein Lichtschein tauchte den Gang plötzlich in Helligkeit. Der junge Mann hob den Kopf und blickte direkt in das gleißende Licht, das sich golden schimmernd an ihm brach. In den Gängen war das Schlurfen der Kreaturen zu hören, die sich hastig in der Dunkelheit verkrochen. Das Flüstern verstummte.
Ich drehte mich um, um zu sehen, woher das Licht kam. Schützend hob ich die Hand vor meine Augen und sah Melinda Seemann, die die Tür am Ende des Gangs aufgerissen hatte, und jetzt in dem Lichtkegel auf mich und den blonden Mann zu rannte.
»Worauf wartest du noch, Mädchen?«, schrie sie aufgeregt. »Geh mit ihm, los!«
AUF GEWEIHTEM BODEN
Immer noch erstarrt fühlte ich, wie seine Hand sich um meine schloss. Und dann rannte er los.
Er rannte so schnell, dass ich kaum Schritt halten konnte. Durch die dunkle Bibliothek, die Treppe hinunter, durch die Aula, und hinaus auf die Straße.
Eiskalte Nachtluft schlug uns entgegen. Ich atmete heftig und die Kälte brannte in meinen Lungen. Ohne einen Augenblick zu überlegen, zog er mich mit sich. Ich hastete stolpernd hinter ihm her, doch er verlangsamte sein Tempo nicht, und irgendwie hielt er mich sicher auf den Beinen. Wir rannten um das Universitätsgebäude herum, dorthin, wo mein Auto stand.
Doch er lief nicht zu meinem Wagen. Stattdessen steuerte er auf den Park zu, der hinter der Universität lag.
»Bist du … sicher?«, keuchte ich atemlos. Auf der Flucht vor diesen Kreaturen schien mir ein schlecht beleuchteter Park nicht gerade die beste Wahl zu sein.
»Der schnellste Weg«, erwiderte er und zog mich mit sich hinein in die Dunkelheit. Während wir rannten, nahm ich Bewegungen in den Sträuchern und Büschen rechts und links von uns wahr. Wieder stieg mir der Verwesungsgeruch in die Nase und mein Herz raste. Panik drohte, mich zu überwältigen. Als würde er meine Angst spüren, zog er mich im Laufen zu sich heran, und verlangsamte sein Tempo etwas, so dass er seinen Arm um meine Schultern legen konnte. Ich drängte mich instinktiv an ihn, weg von dem, das uns flüsternd in den Büschen
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