Unter goldenen Schwingen
leise. »Aber ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll.«
Wagner betrachtete mich nachdenklich. »Es scheint dir wirklich wichtig zu sein«, stellte er fest.
»Sie glauben ja gar nicht, wie wichtig«, murmelte ich.
Wagner überlegte eine Weile, seine Ellbogen auf die Stuhllehnen gestützt und die Hände vor dem Gesicht gefaltet. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Ich denke, ich kenne genau die Person, die dir weiterhelfen kann.«
Mein Herz schlug schneller. Wagner kramte in seiner Aktentasche und zog ein altes, in Leder gebundenes Adressbuch hervor.
»Dein Telefon, bitte«, sagte er, während er in dem kleinen Buch blätterte.
Ich reichte es ihm über den Tisch. Wagner hatte die richtige Seite gefunden, doch er blickte hilflos auf das Smartphone in seiner Hand.
»Hier«, sagte ich und lehnte mich über den Tisch. »Geben Sie die Nummer ein und drücken Sie diese Taste.«
Wagner tat, wie ich es ihm sagte, und ich unterdrückte ein Lächeln. Nach einigen Augenblicken meldete sich jemand am anderen Ende der Leitung.
»Melinda? Guten Morgen, hier ist Eduard Wagner. Bitte entschuldige die frühe Störung. Ich habe hier eine junge Dame, die ein so dringendes Bedürfnis hat, etwas über …« Er warf mir einen Blick zu, » Himmelskräfte zu erfahren, dass sie mich um meinen wohlverdienten Morgenkaffee gebracht hat. Darf ich sie zu dir schicken?«
Die Frau am anderen Ende der Leitung erwiderte etwas.
»Sie ist eine meiner Schülerinnen«, fuhr Wagner fort. »Ein kluges Mädchen, und sie scheint sich diese Sache in den Kopf gesetzt zu haben.«
Ich wippte erwartungsvoll auf dem Stuhl vor und zurück. Wagner schwieg, während die Frau am anderen Ende sprach.
»Heute Nachmittag?«, wiederholte Wagner und richtete einen fragenden Blick an mich.
Ich nickte eifrig.
»Wunderbar. Vielen Dank, Melinda. Liebe Grüße an Georg und die Kinder.«
Er reichte mir das Telefon, damit ich auflegte. »Melinda Seemann arbeitet in der Hauptbibliothek der Universität. Sie ist eine alte Freundin aus Studienzeiten und eine Expertin, wenn es darum geht … spezielle Informationen zu finden. Wenn dir jemand helfen kann, dann sie.«
»Das klingt großartig«, sagte ich dankbar.
Er notierte etwas auf einem Stück Papier und reichte es mir. »Hier ist die Adresse. Tu mir einfach den Gefallen und leer‘ keine Cola über ihre antiken Bücher, in Ordnung?«
»Ich verspreche, ich passe auf …«
Wagner schmunzelte und zwinkerte mir zu. Ich verstaute den Zettel mit der Adresse in meiner Tasche.
»Wenn ich sonst nichts weiter für dich tun kann«, sagte Wagner und stand auf, »werde ich jetzt hinunter ins Sekretariat gehen. Vielleicht komme ich ja doch noch zu meiner Tasse Kaffee.«
Sechs scheinbar endlose Unterrichtsstunden, eine Bus- und zwei U-Bahnfahrten später stand ich an der Adresse, die Herr Wagner für mich auf den Zettel gekritzelt hatte.
Ich war noch nie zuvor in der Universität gewesen. Es war ein eindrucksvolles, altes Gebäude. Den Aufgang bildeten zwei geschwungene Rampen und eine breite Treppe in der Mitte mit altmodischen, dreiarmigen Laternen rechts und links. Der Eingang bestand aus doppelten Flügeltüren in einem zweistöckigen, offenen Arkadenvorbau.
Ich betrat die Aula, die mit polierten Fliesen ausgelegt war, und von hohen Säulen gestützt wurde. An den Wänden hingen Ehrentafeln mit den Namen ehemaliger Rektoren. Die Aula öffnete sich zu einem rechteckigen, dicht begrünten Innenhof, in dessen Mitte ein steinerner Springbrunnen stand. Ich blickte staunend durch die offenen Arkadengänge. Der Garten war wunderschön. Er sah aus, als wäre die Zeit dort stehen geblieben, wie der Innenhof eines verwunschenen Märchenschlosses.
Auf der rechten Seite der Aula führte eine Treppe aus marmoriertem Stein in die oberen Stockwerke. An der Wand hing ein Wegweiser mit der Aufschrift »Universitätsbibliothek«.
Ich stieg die breite, mit einem bordeauxroten Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Am Eingang der Bibliothek stand in goldenen Lettern auf einer Marmortafel:
»Universitätsbibliothek.
Restauriert aus Mitteln der Van-den-Berg Stiftung.«
Ich holte tief Luft, und drückte die schweren, holzbeschlagenen Türen auf.
Der Eingangsbereich war modern eingerichtet, mit einem offenen Schalterbereich und einem Dutzend Computerterminals, die wohl für die Studenten gedacht waren.
»Ich suche Frau Seemann«, sagte ich ein wenig nervös zu dem jungen Mann
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