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Unter goldenen Schwingen

Unter goldenen Schwingen

Titel: Unter goldenen Schwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Luca
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versuchte einen anderen Weg. Er führte mich unter einem dicht bewachsenen Laubengang hindurch – und wieder versperrte mir eine Engelsstatue den Weg. Ich konnte meinen Blick nicht von dem schönen, in Stein gemeißelten Gesicht nehmen. Langsam bewegte ich mich rückwärts. Ein Schauer durchlief mich.
    Ich drehte mich um und suchte den letzten Ausweg. Ich lief zur Mauer unter den Ranken und suchte hastig nach der versteckten Tür. Meine Hände tasteten blind zwischen den Blättern, bis ich plötzlich einen Türgriff aus Metall spürte. Ich musste mein ganzes Körpergewicht einsetzen, um die Tür aufzuziehen – und erstarrte entsetzt, als ich sah, was dahinterstand.
    Ich hatte einer riesigen, schwarzen Kreatur mit gleißend roten Augen die Tür geöffnet. Panik jagte durch meinen Körper. Ich stürzte zu Boden, als ich versuchte, zu fliehen, und schrie so laut, dass meine Stimme brach.
    Geweckt durch meinen eigenen Schrei, schlug ich die Augen auf. Ich lag schweißgebadet in meinen Laken, heftig atmend, und mein Herz raste. Keuchend starrte ich in der Dunkelheit an meine Zimmerdecke.
    Und plötzlich setzten sich die Bilder aus meiner Erinnerung zusammen wie Ausschnitte aus einem Film.
    Der Unfall, den ich auf wundersame Art und Weise überlebt hatte. Der blonde Mann, den außer mir niemand gesehen haben wollte. Der Überfall, und wieder mein unbekannter Retter, der aus dem Nichts aufgetaucht war, um mich zu beschützen. Kaster, mit seinen seltsamen Andeutungen. Die steinernen Engelsfiguren im Garten in meinem Traum – es war, als ob die Puzzleteile in meinem Kopf plötzlich einrasteten. Plötzlich ergab alles einen Sinn.
    Einen unfassbaren Sinn.
    Reflexartig griff ich nach meinem Anhänger und umklammerte den kleinen Flügel. Der einzige Mensch, den ich hätte fragen können, war tot.
    Dann wandte ich den Kopf und blickte auf meinen Wecker. Kurz nach sechs Uhr morgens. Die Schule schloss um viertel nach sieben auf.
    Ich sprang aus dem Bett und hastete ins Bad.
     
    Eine Stunde später hetzte ich ohne zu grüßen am verärgerten Schulwart und zwei verblüfften Lehrern mit Kaffeebechern in den Händen vorbei, und rannte die Treppen hinauf. Kein Schüler begegnete mir. Ich erreichte den Physiksaal und riss die Tür auf.
    Herr Wagner, noch in Mantel und Hut, stellte gerade seine Aktentasche auf den Tisch. »Victoria«, sagte er überrascht. »So früh schon in der Schule?«
    »Entschuldigen Sie«, keuchte ich und durchquerte mit schnellen Schritten den Lehrsaal. »Ich muss Sie dringend sprechen, Herr Wagner.«
    »Das sehe ich.« Er musterte mich neugierig. »Wie du siehst, bin ich selbst gerade erst angekommen. Nimm doch Platz, ich bin gleich bei dir.«
    Doch ich wollte mich nicht setzen. Ich tigerte vor dem Lehrertisch auf und ab bis Wagner seinen Hut und Mantel in der kleinen Kammer verstaut hatte und in den Saal zurückkehrte.
    »Was verschafft mir denn das Vergnügen? Noch mehr Fragen zu Glücksbringern und Amuletten?«
    »Nein.« Ich spielte nervös mit meinen Händen. »Ich wollte Sie fragen … was wissen Sie über … Schutzengel?« Ich sprach das letzte Wort hastig aus.
    Wagner blickte mich lange an.
    »Das kommt darauf an«, sagte er schließlich. »Fragst du den Naturwissenschaftler oder den Theologen?«
    »Beide?«, schlug ich zaghaft vor.
    Wagner lachte. »Beide. Also gut.«
    Er ließ sich in seinen Stuhl sinken und bot mir nochmals an, mich zu setzen. Diesmal ließ ich mich auf einen Stuhl nieder, direkt auf der Sitzkante, und verschränkte die Finger nervös ineinander.
    »Die Standpunkte sind recht konträr. Die Naturwissenschaft geht davon aus, dass es keine Schutzengel gibt. Und die Theologie weiß, dass Mythen über Schutzengel so alt sind wie die Menschheit. Es gibt sie in allen Kulturen der Welt.«
    Ich blickte Wagner schweigend an und nahm jedes Wort begierig auf.
    »Keine der beiden Wissenschaften hat je einen Beweis für oder gegen ihre Existenz erbracht. Also liegt es wohl an jedem Einzelnen, sich seine eigene Meinung zu bilden.«
    »Und was glauben Sie?«, fragte ich.
    »Ich persönlich?«
    Ich nickte.
    Wagner lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte. »Ich glaube, wenn du nicht der Meinung wärst, dass ich die Existenz von Schutzengeln zumindest nicht für unmöglich halte, dann hättest du mich wohl kaum danach gefragt, nicht wahr?«
    Ich senkte nervös den Blick.
    »Was genau willst du wirklich von mir?«
    »Ich muss so viel über Schutzengel herausfinden wie möglich«, sagte ich

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