Unter goldenen Schwingen
aber bestimmt.
»Das habe ich mir schon gedacht«, murmelte ich enttäuscht.
Melinda Seemann überlegte einen Moment. Ihre Augen funkelten. »Wie es aussieht, werde ich mit den Professoren das ganze Wochenende durcharbeiten. Die Bibliothek ist zwar geschlossen, aber wenn es dich nicht stört, hier allein zu sein …«
»Ganz und gar nicht«, sagte ich rasch. »Um wie viel Uhr kann ich herkommen?«
Die Universität war verlassen, als ich mich am Samstagmorgen verschlafen die Treppen zur Bibliothek hinauf schleppte. Am Abend zuvor hatte ich über den Büchern wieder einmal die Zeit vergessen und war erst spät nach Hause gekommen. Ich musste mehrmals klopfen, bevor Melinda Seemann mir öffnete.
»Du findest dich zurecht?«, fragte sie, als sie die Tür hinter mir verschloss, und wir zusammen durch den Eingangsbereich gingen.
Ich nickte. »Kein Problem.« Ich holte die Bücher, die ich am Vorabend zurückgelegt hatte, hinter dem Empfangstisch hervor.
»Wir sind hinten im Konferenzraum. Du wirst also ungestört sein.« Sie zögerte. »Der Konferenzraum befindet sich links neben der theologischen Abteilung am Ende des Gangs. Nur für den Fall, dass du Hilfe brauchst.«
»Hilfe?«
»Für alle Fälle.« Frau Seemann warf mir einen seltsamen Blick zu, bevor sie ging.
Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Kopfschüttelnd balancierte ich meinen Stapel zum Studienbereich und vertiefte mich in die antiken Bücher.
Ich verbrachte das ganze Wochenende in der Bibliothek. Melinda Seemann sah ich nur, wenn sie mir morgens die Tür aufschloss, und mich abends verabschiedete. Sie und die anderen Professoren verließen den Konferenzraum nur in der Mittagspause. Ich hatte mich rasch daran gewöhnt, allein zwischen den endlosen Bücherregalen zu sitzen. Es war kein Problem.
Jedenfalls nicht bis Sonntagabend.
Es war kurz vor halb zehn, ich arbeitete mich gerade durch die Geschichte der Erzengel des Christentums, als ich auf die Uhr blickte. Um mich herum war es vollkommen still. Das einzige Licht kam von meiner Schreibtischlampe. Irgendetwas hatte meine Aufmerksamkeit erregt, doch ich konnte nicht sagen, was es gewesen war. Wahrscheinlich war ich einfach müde …
Plötzlich stieg mir ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Es war nur ein Hauch, so als wäre jemand vorbei gegangen, der ein grauenhaftes Parfum trug. Es roch abstoßend und passte überhaupt nicht in die Bibliothek. Es roch irgendwie verwest … ich rümpfte die Nase. Wie verdorbenes Fleisch.
Eine Bewegung in den Schatten hinter einem Bücherregal links schreckte mich auf. Ich spähte zu dem Regal hinüber und lauschte.
Einbildung , dachte ich. Ich war müde, das war alles. Kein Wunder, nach all den …
Ein Geräusch kam aus dem Gang links von mir.
Ich erstarrte. Ich konzentrierte mich und lauschte in die Stille. Das Geräusch konnte von einem der Regale stammen, redete ich mir ein, von einem alten Möbelstü…
Ein Murmeln.
Ich sprang auf, so heftig, dass mein Stuhl umfiel. Dieses Geräusch war definitiv nicht von einem Möbelstück gekommen.
Es klang wie ein Flüstern, doch ich konnte die Worte nicht verstehen.
»Hallo?« Ich bemühte mich, meiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Wer ist da?«
Zögernd trat ich einen Schritt auf den Gang zu, aus dem das Flüstern kam.
Plötzlich nahm ich noch eine flüsternde Stimme wahr. Sie kam aus dem Gang hinter mir.
Ich drehte mich im Kreis. Es waren mehrere …
»Wer sind Sie?«, fragte ich laut, und blickte mich in alle Richtungen um.
Ich stand allein im Studienbereich und der Lichtschein meiner Tischlampe warf nur einen schwachen Kegel um mich herum. Die Gänge mit ihren meterhohen Bücherregalen lagen im Dunkeln.
Ich spürte, wie schnell mein Herz schlug. Das Flüstern kam aus mehreren Gängen um mich herum.
»Wollen Sie zu der Besprechung?«, fragte ich nervös. »Sie sind alle noch da – dort hinten im Konferenzraum.«
Meine Stimme hallte unbeantwortet durch die Bibliothek. Ich griff nach meiner Tasche.
»Ich … kann den Professoren Bescheid geben …«
Ich bewegte mich langsam in die Richtung der theologischen Abteilung, wie Melinda Seemann mich angewiesen hatte, und suchte gleichzeitig in meiner Tasche nach dem Pfefferspray.
Ohne die Gänge aus den Augen zu lassen, entfernte ich mich weiter vom Studienbereich – und damit von der einzigen Lichtquelle. Ich warf einen Blick Richtung Konferenzraum, in die Dunkelheit. Verzweifelt sah ich mich nach Lichtschaltern um.
Es gab
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