Unter goldenen Schwingen
und stieß sie gegen eine Kirchenbank.
»Wir sind deine Familie«, sagte er leise. »Deine Engelsfamilie.«
Ich grinste verlegen. »Ich habe eine Engelsfamilie?«
»Du hast zwei großartige Engel an deiner Seite«, nickte er. »Und mich«, fügte er hinzu.
Mein Grinsen wurde breiter. »Warum kann ich sie nicht sehen?«
»Sie halten sich noch im Hintergrund. Wir wollten warten, bis du bereit bist, aber … « Er schüttelte entschuldigend den Kopf. »Tut mir leid, dass ich dich so überstürzt in diese Sache hineinstoßen muss.«
»Bist du verrückt? Ich will sie kennenlernen!«
»Das ist ein Wort.«
Ich fuhr herum, als die fremde Stimme hinter mir ertönte. Sie war rauchig und tief und ähnlich samten wie Nathaniels Stimme.
Hinter mir, im Schatten der bunten Glasfenster, lehnte ein fremder Engel an der Steinmauer – nicht ganz so groß wie Nathaniel, drahtiger gebaut, mit einem kantigen Gesicht und dunklem Haar. Er schimmerte bronzefarben und seine weißen Schwingen glitzerten im Halbdunkel. Sie ähnelten Nathaniels Flügeln, nur waren sie mit feinen bronzenen Diamanten gesprenkelt. Während er gesprochen hatte, hatte er zu Boden geblickt; jetzt hob er den Kopf und sah mich aus tiefen, dunklen Augen an, und sein intensiver Blick traf mich wie ein Pfeil.
Ich stolperte rückwärts und stieß gegen Nathaniel. Der bronzene Engel war auf unangestrengte, nachlässige Art attraktiv. Er hatte das wilde Charisma eines Rockstars und er musterte mich mit einem intensiven Ausdruck in den Augen.
»Victoria«, sagte Nathaniel. »Das ist Ramiel. Er wacht über deinen Verstand.«
Wie passend, dachte ich. Den verliere ich gerade …
»Hallo.« Meine Stimme war nur ein heiseres Krächzen.
Ramiel betrachtete mich mit forschendem Blick, während er zu uns in den Mittelgang schlenderte. Er musterte mich so messerscharf, dass ich meinen Blick abwandte.
»Ramiel hilft dir bei rationalen Entscheidungen«, sagte Nathaniel. »Er hilft dir, deine Gedanken zu ordnen.«
Was? Meine Gedanken waren ein einziges Chaos!
»Danke, Leibwächter «, sagte Ramiel, ohne seinen Blick von mir zu nehmen. Der Anflug eines Lächelns erschien auf seinen Lippen. Er sah einfach umwerfend aus.
Er zeigte auf Nathaniel und dann auf sich selbst. »Muskeln, und Hirn. Das wollte er sagen.« Ramiel lehnte sich grinsend gegen eine Kirchenbank und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Dann, Hirn , sorg gefälligst dafür, dass sie die richtigen Entscheidungen trifft«, schoss Nathaniel zurück. »Heute waren Inferni in der Schule.«
Das lässige Grinsen verschwand augenblicklich aus Ramiels Gesicht. »Denkst du, das weiß ich nicht?« Seine rauchige Stimme klang gefährlich.
»Warum ist das so schlimm?«, fragte ich scheu. »Ich meine, ich weiß, dass ich in Panik geraten bin, aber …«
Ramiel blickte mich an. »Wie viele waren es?«
»Keine Ahnung – eines war bei meinem Spind, dann noch eines im Gang … im zweiten Stock waren es vier, und im ersten Stock fünf oder sechs, glaube ich. Und in der Aula waren sie in allen Ecken.«
Nathaniel und Ramiel wechselten düstere Blicke.
»Kein Wunder, dass du in Panik warst«, murmelte Nathaniel.
»Warum?« Ich blickte zwischen den beiden hin und her. »Was ist denn los?«
»Inferni beeinflussen die Gefühle und Handlungen von Menschen«, sagte Ramiel. »Sie erzeugen schlechte Gefühle, so wie Angst, Verzweiflung, sogar Hass. Sie können Menschen dazu treiben, furchtbare Dinge zu tun, wenn …«
»Wenn was?«, fragte ich.
»Wenn du ihnen nachgibst«, vollendete Nathaniel den Satz.
Ich starrte ihn an. Langsam glaubte ich zu verstehen. »Ich habe ihnen nachgegeben«, murmelte ich. »In den vergangenen Monaten, als es mir so schlecht ging … das war ihretwegen, nicht wahr? Sie waren um mich, so wie du gesagt hast.«
Nathaniel nickte.
»Wir haben unser Bestes getan«, sagte Ramiel.
Ich starrte die beiden Engel an, und begriff. »Ihr konntet mir nicht so helfen, wie ihr wolltet … weil ich mich nicht für euch entschieden habe?« Plötzlich sah ich alles ganz klar und die Erkenntnis schlug wie ein tonnenschwerer Felsbrocken auf meinen Magen.
Nathaniel legte beruhigend seine Hand auf meine Schulter. »Übertreib es nicht«, sagte er warnend zu Ramiel.
Der bronzene Engel hielt Nathaniels Blick stand. »Ich helfe ihr nur, die Puzzleteile zusammenzusetzen.«
»Trotzdem verstehe ich nicht, warum die Inferni sich jetzt so auf mich stürzen«, murmelte ich. »Ich habe mich doch für euch entschieden
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