Unter goldenen Schwingen
unordentlichen Stapel von Mitschriften und Büchern.
Plötzlich fiel mir ein, wann ich das letzte Mal allein bei diesem Spind gestanden hatte. Es musste vor ungefähr einem Jahr gewesen sein.
Es war der Tag vor einer Französischprüfung gewesen, und ich hatte mein Wörterbuch in der Schule vergessen. Meine Mutter hatte mich gezwungen, am Nachmittag noch einmal hinzufahren, um es zu holen.
Ich erinnerte mich, wie wütend ich auf sie gewesen war.
Während ich das Mathebuch in meinen Händen anstarrte, fühlte ich, wie das riesige Loch in meinem Innern wieder aufriss.
Es musste unser letzter Streit vor ihrer Diagnose gewesen sein.
Es war unser letzter Streit überhaupt.
Ich fühlte einen bitteren Geschmack im Mund und etwas schnürte mir die Kehle zu. Ohne dass ich es verhindern konnte, kamen die Erinnerungen in mir hoch – die Erinnerungen daran, wie alles weitergegangen war.
Und das riesige schwarze Loch in meinem Inneren drohte mich zu verschlingen.
Ich musste so schnell wie möglich aus der Schule raus. Ich schluckte trocken, richtete mich auf und schlug die Spindtür zu.
Und dann schrie ich los.
FAMILIENBANDE
Es stand direkt hinter der Spindtür, kaum eine Unterarmlänge von mir entfernt. Bei Licht sah es noch scheußlicher aus als im Halbdunkel der Bibliothek. Die ledrige, halb verweste Haut hing in Fetzen von seinem Kopf, es hielt sich schief und streckte mir seine hässliche Fratze entgegen. Es bewegte seine schmalen Lippen und starrte mich aus leeren schwarzen Augen an.
Ich stolperte rückwärts, fiel zu Boden, und der Schwung riss die Kopfhörer aus meinen Ohren – jetzt konnte ich es flüstern hören.
Und die anderen auch.
Ein Schauer lief durch meinen Körper. Plötzlich verstand ich, woher die düsteren Erinnerungen gekommen waren. Hastig zog ich mich wieder auf die Beine und rannte den Gang hinunter. Als ich die Treppe erreichte, schlug mir noch mehr süßlicher Verwesungsgestank entgegen. Eine weitere grässliche Kreatur stand in der Tür gegenüber und starrte mich an. Während sie unentwegt flüsterte, begann sie, auf mich zuzuhumpeln.
Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich die Treppe hinunterrannte, wobei ich immer zwei Stufen auf einmal nahm. Aus den Gängen jedes Stockwerks schlichen sie mir flüsternd entgegen, ihre leeren Augen auf mich geheftet. Ich zwang mich, weiterzurennen, obwohl mein Herz wie wild gegen meinen Brustkorb hämmerte. Wie eine Irre hetzte ich durch die Aula, sie standen in allen Ecken, und ich hielt so viel Abstand zu ihnen, wie ich konnte. Beinahe stieß ich mit dem Schulwart zusammen, der mich sofort anmotzte. Er war wütender als sonst, aber er blickte ohne jede Reaktion direkt durch die Inferni hindurch. Er konnte sie tatsächlich nicht sehen – niemand außer mir konnte sie sehen. Und niemand würde mir helfen. Niemand außer …
So schnell ich konnte, rannte ich aus dem Gebäude hinaus.
»Nathaniel!«, keuchte ich panisch, während ich über den Schulhof hetzte. Ich erreichte den Parkplatz, und prallte zurück – er stand vor mir, zornerfüllt und gleißend wie flüssiges Gold.
»Schnell.« Seine Stimme war ruhig und gefasst, als er mir in den Wagen half. Dabei ließ er den Schulhof nicht aus den Augen.
»Wohin?« flüsterte ich.
»Zum Friedhof.« Er schlug die Wagentür zu und schwang sich in die Luft.
Ich trat das Gaspedal durch. Die anderen Fahrer hupten und mussten bremsen, als ich mit quietschenden Reifen vom Parkplatz schoss. Ich atmete heftig und mein Herz hämmerte wie verrückt. Alle paar Augenblicke beugte ich mich vor und blickte nach oben, um mich zu vergewissern, dass er noch schützend über mir schwebte, ein Wirbel aus Weiß und Gold. Meine Hände hielten das Lenkrad so fest umklammert, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Ich zitterte am ganzen Körper.
Als ich den Wagen endlich vor dem Friedhofstor parkte, ließ ich meine Stirn keuchend gegen meine Hände sinken. Meine Finger waren eiskalt. Jemand öffnete die Wagentür.
»Wir sind gleich da. Bitte komm.«
Ich hob den Kopf. Nathaniel stand neben mir und hielt mir seine Hand entgegen. Er strahlte nicht mehr so hell wie auf dem Schulparkplatz. Ich ließ mir von ihm aus dem Wagen helfen.
»Was hat das zu bedeuten?«, murmelte ich. »Ich dachte, das war’s, und wir wären sie los? Wenn diese Kreaturen jetzt nämlich wieder überall auftauchen, dann werde ich wahnsinnig. Jetzt, wo ich sie sehen kann, halte ich das nicht aus, ich hatte gerade fast einen Herzinfarkt
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