Unter goldenen Schwingen
noch mehr, dass du sie sehen kannst. Sie verwenden es gegen dich, in dem sie versuchen, auf direktem Weg dein Leben zu durchkreuzen. Sie sind nicht mehr ausschließlich auf das Beeinflussen von Stimmungen und Gedanken angewiesen, seit du sie sehen kannst.«
Ich starrte ihn lange an.
»Indem er dich gerettet hat, hat Nathaniel beide Seiten gegen euch aufgebracht«, sagte Ramiel langsam. »Unsere und ihre.«
»Sie werden nicht aufgeben, nicht wahr?«, fragte ich Nathaniel leise. »Keine der beiden Seiten.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Was können wir tun?«, flüsterte ich tonlos.
»Gegen das Tribunal – falls es so weit kommen sollte – werden wir uns etwas einfallen lassen.« Nathaniel warf Seraphela und Ramiel einen warnenden Blick zu, der die beiden schweigen ließ. »Und gegen die Inferni …« Ein zaghaftes Lächeln umspielte plötzlich seine Lippen. »Glaubst du, du könntest dich an meine ständige Gesellschaft gewöhnen?«
»Was meinst du mit ›ständig‹?«
»Rund um die Uhr.«
Ich blinzelte sprachlos.
»Wirklich?«, fragte ich ungläubig. »Rund um die Uhr?«
Er nickte. »Rund um die Uhr.«
Diese Worte veränderten alles. War die Bedrohung durch die Inferni der Preis dafür, ihn die ganze Zeit bei mir haben zu dürfen? Mein Herz begann, vor Freude wild zu hüpfen. Ich war gern bereit, alle Inferni der Hölle auf meinen Fersen zu haben, wenn Nathaniel dafür immer an meiner Seite blieb.
»Ich denke, damit könnte ich leben«, antwortete ich langsam und konnte das strahlende Lächeln auf meinem Gesicht nicht verbergen.
Seraphelas Gesichtsausdruck war eisig.
»Weißt du überhaupt, was du da tust?«, flüsterte sie mit einem undurchdringlichen Ausdruck in den Augen.
Nathaniels Miene war plötzlich wie versteinert. »Ich tue, was nötig ist, um sie zu beschützen.«
Zwischen den beiden entstand eine eiserne Spannung. Ich verstand nicht, weshalb, doch der Streit der beiden war für mich kaum zu ertragen. Ich war kurz davor, dazwischen zu gehen, als …
»Wir quälen sie, Sera«, sagte Nathaniel im selben Augenblick und löste seinen Blick von dem silbernen Engel. Die unerträgliche Spannung brach. »Victoria, wir gehen. Wir haben entschieden und es gibt nichts mehr zu bereden.« Er drängte mich Richtung Tür und ich erhaschte einen raschen Abschiedswink von Ramiel, bevor Nathaniel mich aus der Kapelle schob.
EIN GOLDENER SCHATTEN
»Das war ja reizend«, murmelte ich, als wir den Friedhofsweg Richtung Haupttor entlang gingen. »Ich stehe auf Familientreffen. Sollten wir öfter machen. Ich bin sicher, Seraphela wäre begeistert.«
»Sie wird kommen, wenn du sie rufst«, erwiderte Nathaniel, in Gedanken versunken.
Ich blieb stehen. »Nathaniel, sie hasst mich.«
»Was? Sie hasst dich doch nicht.«
Ich deutete auf die Kapelle. »Reden wir von der gleichen Seraphela? Das silbern glänzende Supermodel da drin?«
»Sie macht sich Sorgen. Das ist alles.«
Er bot mir seine Hand an und ich legte meine Hand in seine. Ein Schwarm Schmetterlinge explodierte in meinem Bauch.
»Ich mag Ramiel lieber«, murmelte ich, während ich versuchte, die Schmetterlinge unter Kontrolle zu bringen. »Ramiel ist cool.«
»Tut mir leid, dass du mit mir vorliebnehmen musst.« Nathaniel grinste, und drückte meine Hand. Aus dem Schmetterlingsschwarm wurde ein Schmetterlings-Feuerwerk.
»Ausnahmsweise«, brummte ich und hoffte inständig, dass er nicht hörte, wie laut die kleinen Flügel in meinem Bauch flatterten.
Als wir das Haupttor erreichten, sah ich Adalbert Kaster, der uns missbilligend durch sein Fenster beobachtete. Ich winkte ihm, doch er reagierte nicht. Mein Lächeln verblasste.
»Was ist los mit ihm?«, flüsterte ich Nathaniel zu.
Er antwortete nicht. Wir verließen den Friedhof und schlenderten über den Parkplatz.
»Großartig, dann sprechen wir eben über etwas anderes«, sagte ich. »Warte, wie wäre es mit diesen Engeln, die dich umbringen wollen?«
»Schade, dass du Ramiel magst«, stieß Nathaniel zwischen den Zähnen hervor. »Ich muss ihn nämlich dafür erwürgen, dass er dir das erzählt hat.«
»Wolltest du diese Tribunal-Sache etwa vor mir geheim halten?«
Nathaniel blieb stehen. »Wenn es jemals dazu kommen sollte, hätte ich es dir gesagt. Ich will einfach nicht, dass du dir unnötige Sorgen machst. Nicht meinetwegen«, fügte er hinzu.
»Bist du verrückt? Du bist … mir … wichtig«, stammelte ich umständlich und wich seinem Blick aus. »Und wenn du in Gefahr
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