Unter goldenen Schwingen
Auto mitfahren?«, murmelte ich.
»Kauf dir einen Bus.«
»Wie bitte?«
»Flügel«, knurrte er über das surrende Motorgeräusch, ein amüsierter Unterton in seiner Stimme. »Platzproblem.«
Ich schüttelte den Kopf, als ich die Autotür schloss und den Wagen startete.
»Verstehe ich das richtig?«, fragte ich, als ich später auf meinem Bett saß. »Du wirst ab jetzt nicht mehr von meiner Seite weichen? Wie genau soll das denn aussehen?«
Er lehnte an meinem Schreibtisch. »Keine Sorge, du wirst mich kaum bemerken.«
Ich prustete in das Glas, das ich gerade an meine Lippen geführt hatte. Ein Blick auf seine golden schimmernde Gestalt und die riesigen Flügel, die mein halbes Zimmer ausfüllten, ließ mich stark an seinen Worten zweifeln.
»Mit wem unterhältst du dich?« Ludwig steckte plötzlich seinen Kopf zur Tür herein.
Ich erschrak so heftig, dass ich das Glas umkippte und mein T-Shirt mit Wasser tränkte. »Verdammt«, murmelte ich und drückte die Bettdecke gegen mein Shirt, um das Wasser aufzusaugen. »Ich habe gar nicht gewusst, dass du heute nach Hause kommst.«
Ludwig sah sich in meinem Zimmer um und schaute dabei direkt durch Nathaniel durch. Mein fassungsloser Blick wanderte zwischen Nathaniel und meinem Vater hin und her. Verwirrt versuchte ich, eine passable Ausrede zu erfinden. »Ich … äh … habe gerade telefoniert.«
Nathaniel grinste. Ich war eine miserable Lügnerin.
Mein Vater betrachtete stirnrunzelnd mein Telefon, das viel zu weit entfernt auf meinem Schreibtisch lag.
»Wie war es in Hong Kong?«, fragte ich schnell.
»Es gibt Probleme mit dem Vertragsabschluss«, sagte Ludwig müde. »Ich bin mit dem 18-Uhr-Flug gekommen. Wie geht es dir? Warst du schon wieder in der Schule?«
»Ja. Ich war …«
»Schön«, murmelte Ludwig abwesend. »Ich habe noch ein paar Akten durchzuarbeiten.« Er warf einen Blick auf die Wand hinter meinem Schreibtisch, wohin meine Augen seiner Meinung nach während unseres Gesprächs ständig gewandert waren. Dabei schaute er Nathaniel direkt an und ich hielt den Atem an, doch Ludwig zeigte nicht die geringste Reaktion. Schließlich nickte er mir zu und schloss die Tür.
Ich atmete erleichtert aus.
»Ich hab’s doch gesagt«, schmunzelte Nathaniel. »Kein Problem.«
»Ich glaube, daran werde ich mich nie gewöhnen«, stöhnte ich und wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass sich mein Herzschlag wieder normalisierte. »Woher weiß ich eigentlich, ob dich jemand sehen kann oder nicht?«
»Im Vorhinein? Gar nicht.« Nathaniel grinste. »Im Nachhinein wirst du es schon merken, nehme ich an.«
»Sehr witzig«, murmelte ich. »Die Situation hatten wir schon einmal.«
Nathaniels Blick wurde ernst. »Du bist traurig«, sagte er langsam.
Ich schwieg eine Weile. Schließlich schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß auch nicht. Es ist so …«
»Es ist wegen Ludwig«, sagte Nathaniel leise.
Ich zuckte mit den Schultern.
Natürlich war es wegen Ludwig.
Nathaniel stand auf und trat zu mir. Er legte seine Hände auf meinen Kopf und drückte seine Lippen an mein Haar. »Du bist nicht mehr allein«, flüsterte er.
Mein Herz flatterte unbeherrschbar.
Am nächsten Morgen erwachte ich durch seine Stimme, die meinen Namen flüsterte.
Ich seufzte leise und kuschelte mich, noch halb schlafend, in mein Kissen. Es war gemütlich und warm unter der Decke und ich spürte etwas Großes, Schweres, das den Rand meiner Matratze nach unten drückte.
»Victoria …«
Ich blinzelte verschlafen.
Er saß an meinem Bettrand und blickte mich lächelnd an.
»Guten Morgen …« Ich rieb mir die Augen.
Nathaniel streckte seine Hand aus und schaltete meinen Wecker ab, nur Augenblicke bevor der lästige Piepton erklungen wäre. »Ich dachte, ich könnte dich sanfter wecken als dieses Gerät. Es sei denn, dir wäre es lieber … ?« Er blickte mich fragend an.
»Du lässt mir die Wahl zwischen deiner Stimme und dem elektronischen Piepsen?« Mein Wecker hatte keine Chance. »Du hast den Job.«
Er neigte den Kopf und schmunzelte.
»Hast du die ganze Nacht hier gesessen?«, fragte ich verschlafen.
Er nickte. Er wirkte so gelöst und erholt, wie ich mich fühlte – und ich hatte so tief geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Ich schlug die Decke zurück, um aufzustehen und er erhob sich und trat einige Schritte zur Seite. Seine Flügel glitzerten bei jeder seiner Bewegungen.
»Lass dir Zeit«, sagte er. Er zog sich zurück und ich stand allein in meinem Zimmer.
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