Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
dass Sie so leiden müssen.«
Eine Träne rann über ihre Wange und sie bemerkte, wie Nicks Lippen zitterten.
»Seltsam«, sagte er mit heiserer Stimme und warf ihr einen so abgrundtief hoffnungslosen Blick zu, dass sie erschrak, »von allen Menschen, die ich für meine Freunde gehalten habe, hat mir das niemand gesagt. Von ihnen habe ich nur leere Worte gehört. ›Das Leben geht weiter‹ und ›Zeit heilt alle Wunden‹. Sie halten sich von mir fern, als sei ich aussätzig. Das merke ich genau. Dabei hätte ich so dringend jemanden gebraucht, mit dem ich reden kann.«
»Die meisten Menschen fürchten sich davor, mit dem Tod konfrontiert zu werden«, entgegnete Alex. »Es ist schwer mit Tod und Trauer umzugehen.«
»Aber Sie, Alex, Sie kennen mich doch kaum und trotzdem hatten Sie keine Angst, hierherzukommen und mit mir zu sprechen.«
»Ich bin auf dem Land aufgewachsen«, antwortete sie. »Da ist der Kreislauf von Leben und Tod etwas Selbstverständliches.
Hier schweigt man und tut so, als gäbe es den Tod nicht. Aber man muss lernen, ihn zu akzeptieren und zu trauern, um weiterleben zu können.«
»Den Tod könnte ich akzeptieren, wenn es mir auch schwer fallen würde«, sagte Nick, »aber der Gedanke, dass ich schuld bin ...«
Ihm versagte die Stimme.
»Solange Sie sich einreden, schuld am Tod Ihrer Familie zu sein, werden Sie mit dem, was geschehen ist, niemals fertig werden.«
»Wie meinen Sie das?« Nick sah Alex beinahe erstaunt an.
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich so direkt bin«, erwiderte sie, »aber ich glaube, Sie versuchen gar nicht, das Geschehene zu verarbeiten. Sie laufen nur vor sich selbst davon, wenn Sie sich weiterhin mit Selbstvorwürfen zerfleischen.«
Nick schwieg einen Moment und Alex befürchtete schon, sie sei ihm zu nahe getreten.
»Vitali wollte Sie umbringen, weil Sie ihm auf die Füße getreten sind. Sie haben das nicht aus Eitelkeit getan, sondern aus Überzeugung«, sagte sie eindringlich. »Sie waren überzeugt davon, das Richtige zu tun. Wie kann das ein Fehler sein? Es war eine tragische Verkettung unglücklicher Umstände, dass es nicht Sie, sondern Ihre Familie getroffen hat. Wären Sie und Ihr Chauffeur und vielleicht noch andere in den Wagen gestiegen, wären die heute tot.«
Nick starrte sie an und sie erwiderte seinen Blick.
»Als ich zehn war«, sagte sie mit leiser Stimme, »schenkte mein Opa mir ein Fohlen. Ich zog es auf, ritt es selbst zu und liebte es mehr, als alles andere auf der Welt. Es war ein großartiges Pferd, mein Ein und Alles. Ein paar Jahre später zog an einem Tag ein Gewitter herauf. Mein Opa rief mich und sagte, ich solle das Pferd in den Stall bringen. Ich tat es nicht, weil ich gerade ein spannendes Buch las. Gewitter sind schließlich nichts Außergewöhnliches. Also ließ ich das Pferd draußen.«
Nick sah Alex unverwandt an.
»Am nächsten Morgen«, fuhr sie fort, »als ich reiten wollte, war mein Pferd nicht da. Ich suchte die ganze Koppel ab und fand es. Es war tot. Ein Blitz hatte es auf der Wiese erschlagen.Ich war außer mir vor Trauer und machte mir die schlimmsten Vorwürfe. Ich wusste, dass ich schuld gewesen war, weil ich nicht auf meinen Opa gehört und das Pferd in den Stall gebracht hatte. Ausgerechnet mein Pferd war tot, nicht eines der anderen Pferde. Ich dachte damals, ich müsste sterben, so schlimm waren mein Kummer und meine Schuldgefühle. Ich wünschte mir sehnlich, ich könnte die Zeit zurückdrehen und den Fehler ungeschehen machen, aber das ging nicht.«
Sie seufzte bei der Erinnerung an diese schrecklichen Tage.
»Ich machte mir bittere Vorwürfe. Das Pferd konnte doch nichts dafür. Aber damals habe ich zum ersten Mal in meinem Leben begriffen, dass Vieles im Leben passiert, ohne dass man etwas daran ändern kann. Es mag fatalistisch klingen, aber so ist es nun einmal. Der Vater meiner Freundin wurde von einem umstürzenden Baum erschlagen, mein jüngerer Bruder starb auf dem Schulweg, weil ein LKW-Fahrer die Kontrolle über seinen Lastwagen verlor und eine Freundin auf dem Gymnasium starb mit 15 Jahren an Leukämie. Ist das nicht ebenso sinnlos, wie der Tod Ihrer Familie? Und wer ist daran schuld? Ist überhaupt jemand schuld, wenn der Tod auf einmal an die Tür klopft?«
In Nicks Gesicht zuckte es und Alex erkannte in seinen Augen unter der Qual einen kleinen Hoffnungsschimmer. Mit einer impulsiven Bewegung ergriff sie seine Hand, auf der die Narben der Brandwunden noch zu sehen waren.
»Es ist
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