Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
und strich über seine tränenfeuchte unrasierte Wange. Die letzte Stunde hatte ein Band des Vertrauens zwischen ihnen geschmiedet, das spürten sie beide.
»Wenn Sie Trost brauchen, wenn Sie einmal reden wollen, dann bin ich für Sie da, Nick«, sagte Alex mit rauer Stimme, »und Sie müssen nicht befürchten, dass ich irgendwem davon erzähle.«
»Danke«, er brachte ein schwaches Lächeln zustande und erhob sich mühsam, »ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.«
»Schon gut«, murmelte sie. Eine ganze Weile saßen sie schweigend nebeneinander, bis Alex auffiel, dass sie noch immer Nicks Hand in ihrer hielt. Verlegen ließ sie ihn los.
»Ich ... ich muss jetzt gehen. Sind Sie okay?«
»Ja«, erwiderte er und es schien Alex, als ob eine winzige Spur seiner alten Energie wieder zurückgekehrt sei, »mir geht es viel besser.«
Bevor sie gehen konnte, ergriff er wieder ihre Hand.
»Weshalb sind Sie wirklich gekommen, Alex?«
Sie blickte ihn an, dann erhob sie sich. Nick war kein Verbündeter gegen Sergio mehr. Und sie konnte das verstehen.
»Das spielt keine Rolle mehr«, erwiderte sie.
***
Gedankenverloren ging sie die verschlungenen Wege des Friedhofs entlang. Die Sonne hatte an einigen Stellen die dichten Wolken durchbrochen, und die warmen Strahlen schmolzen den Nebel. Die Messe in der Kirche war zu Ende, einige Leute besuchten die Gräber ihrer Angehörigen. Alex war noch ganz benommen von dem unerwarteten Vertrauen, das Nick Kostidis ihr entgegengebracht hatte, und sie empfand eine tiefe Zuneigung zu ihm. Er war nicht hart und rücksichtslos, nein, er war ganz anders, als sie jemals geglaubt hätte. Als sie um eine Ecke bog, wäre sie fast mit einem Mann zusammengestoßen. Sie murmelte eine Entschuldigung, doch als sie dem Mann kurz ins Gesicht blickte, fuhr ihr ein eisiger Schrecken bis ins Mark. Niemals würde sie diese kalten, gelblichen Augen vergessen. Das war der Mann, den sie am Abend von Sergios Geburtstagsfeier in dessen Haus gesehen hatte, der Mann, der David Zuckerman umgebracht hatte. Und es konnte nur einen einzigen Grund geben, weshalb er jetzt hier, auf diesem Friedhof, war: Er war gekommen, um das zu tun, was vor ein paar Wochen misslungen war. Sergio hatte ihn hergeschickt, um Nick Kostidis zu töten. Alex dachte keine Sekunde daran, dass auch sie in Gefahr war, sie dachte nicht daran, dass der Mann sie erkannt haben und Sergio davon erzählen könnte, dass sie hier gewesen war. Sie verspürte nur noch Angst um Nick, der ahnungslos auf einer Bank am Grab seinerFamilie saß, während ein Killer auch nach seinem Leben trachtete. Ihr Vorteil war, dass der Mann mit den gelben Augen nicht genau wusste, wo Nick sich befand. Er ging mit suchenden Blicken die Friedhofswege entlang, langsam, um nicht aufzufallen. Alex lief mit pochendem Herzen los und erreichte wenig später die Bank, auf der sie eben noch mit Nick gesessen hatte. Doch die Bank war leer. Panik explodierte in ihrem Innern, sie begann zu rennen. Endlich sah sie ihn! Er ging mit gesenktem Kopf, die Hände in den Manteltaschen vergraben, auf die Kirche zu. Just in diesem Moment hatte ihn auch der Mann mit den gelben Augen entdeckt. Im Schutze einer mächtigen Eibe hob er sein Gewehr und legte es an. Alex und stolperte quer über die Gräber. Es war ihr egal, dass die Leute sie ärgerlich ansahen.
»Nick!« Ihre Stimme überschlug sich. »Passen Sie auf!«
Nick Kostidis drehte sich erstaunt um, aber da hatte sie ihn schon erreicht und warf sich gegen ihn, worauf sie beide das Gleichgewicht verloren und zu Boden stürzten. Die Kugel, die für Nick bestimmt war, schlug in den Grabstein direkt hinter ihnen ein, die Steinplatte zersplitterte und zerbrach in zwei Teile.
»Was ... was ... war das?«, fragte er benommen. Alex wandte vorsichtig den Kopf, um nach dem Mann zu sehen, der auf sie geschossen hatte. Er war verschwunden. Da platzte der Knoten der Anspannung in ihrem Innern und sie begann zu weinen. Ein paar Leute kamen neugierig näher und starrten sie an.
»Jemand hat auf mich geschossen, stimmt’s?«, flüsterte Nick.
»Ja«, Alex richtete sich auf und wischte sich schluchzend die Tränen ab. Nick erhob sich ebenfalls. Er war sehr blass, aber erstaunlich ruhig.
»Sie haben mir das Leben gerettet«, er ergriff ihre Hand. Alex schlang die Arme um den Hals und verbarg das Gesicht an seiner Schulter.
»Ich habe den Mann zufällig erkannt, als er mir entgegenkam«, ihre Stimme zitterte hysterisch, »ich habe ihn bei Vitali
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